Die Schokoladenfabrik Lucerne auf einer Postkarte. | Bild: Seetaler Brattig / Museum Alt Hofdere

*Robert Geisseler, Hochdorf

17. Dezember 1904. Ein denkwürdiger Tag in der Hochdorfer Industrie-Geschichte. Unter dem grosstönenden Namen «Lucerna Anglo-Swiss Milk Chocolate Co.» wurde in Luzern der Verwaltungsrat der neuen Schokoladenfabrik gewählt. Das Aktienkapital betrug fünf Millionen Franken – für damalige Verhältnisse eine sehr respektable Investition. Als Präsident des Verwaltungsrates stand Nationalrat Schobinger (der spätere Bundesrat) an der Spitze des Unternehmens. Ihm zur Seite amtete Theophil Schmidlin, der Direktor der im Jahre 1883 eröffneten Seetalbahn, als Präsident des Leitenden Ausschusses. Die grosszügig konzipierten Fabrikationsgebäude wurden an der Baldeggerstrasse in Hochdorf erstellt, nachdem der Gemeinderat die Baubewilligung im Jahre 1905 erteilt hatte. Die Aufrichtefeier fand am 17. Juni 1905 statt. Die offizielle Eröffnung der «Lucerna» wurde am 24. März 1906 gross gefeiert, und zwar im Hotel Post, das kurz vorher vom Dichter und Amtsschreiber Peter Halter neu erstellt worden war.

    Schon am 6. Oktober des gleichen Jahres ging die erfreuliche Mitteilung durch die Presse, dass die «Lucerna» an der Weltausstellung in Mailand für ihre Schokolade einen ersten Preis mit Goldmedaille zugesprochen erhalten habe. Diese frohe Kunde liess bei der grossen Belegschaft, der Gemeindebehörde und der Seetaler Bevölkerung die berechtigte Hoffnung aufkommen, die «Lucerna» könnte sich mit den Jahren zu einem blühenden Unternehmen entwickeln. Diese Hoffnung war schon deshalb keineswegs abwegig, weil der günstige Standort im Luzerner Seetal, wo seit jeher «Milch und Honig floss» eine gute Voraussetzung war.

    Der «Lucerna» war leider nur eine kurze Lebenszeit beschieden. Von der Aufnahme der Schokoladenfabrikation (24. März 1906) bis zur Konkurseröffnung im Jahre 1911 verstrichen knappe fünfeinhalb Jahre. Die feine, süsse «Lucerna»-Schoggi hinterliess einen bitterbösen Nachgeschmack.

    Einige wenige Details aus jenen düsteren Tagen, soweit sie eruierbar waren, dürften heute noch etwelches Interesse wecken. Waren es doch Jahre des Aufschwungs und des Niederganges.

    Ende des 19. Jahrhunderts war Hochdorf eine Ortschaft von vorwiegend bäuerlich-gewerblicher Struktur. Ab 1895 erlebte Hochdorf einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung. Innert zehn Jahren wuchsen elf Industrien wie Pilze aus dem Boden. Einige davon stehen heute noch dank eines geschickten und seriösen Geschäftsgebarens in voller Blüte. Etwa fünf weitere neue Industrien erlebten das gleiche Schicksal wie die «Lucerna». Sie wurden gerüttelt und geschüttelt, bis ihnen der Schnauf ausging.

    Über dem Dorf lagen soziale Spannungen. Es herrschte Wohnungsnot. Die Zahltagssäcklein (so auch bei der «Lucerna») wiesen Stundenlöhne für die Frauen von 13, 15 und 18 Rappen aus. Zwischen den sozialdemokratischen und den christlichen Gewerkschaften herrschte eine verbissene Konkurrenz. Im Jahre 1907 wütete während acht Wochen ein Generalstreik, an dem auch ein Teil der Belegschaft der «Lucerna» beteiligt war. Die Feuerwehr wurde zur Hilfe angefordert. Am 23. Juli 1907 rückte mit Bewilligung des Regierungsrates das Füs Bat 111/44 in Hochdorf ein. Drei Tage später konnte die Truppe wieder entlassen werden, nachdem mehrstündige Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern zu einem Kompromiss und zum Ende des Streiks geführt hatten. Das massgebende Wort für diese Verständigung führten der damalige Amtsstatthalter Dr. Jakob. Sigrist (der spätere Regierungs- und Ständerat) und Seetalbahndirektor Theophil Schmidlin.

    Am 20. Februar 1909 trat Nationalrat Dr. Heinrich Walther (Militärdirektor des Kantons Luzern) aus dem Verwaltungsrat der «Lucerna» zurück. Die Presse meldete am 17. April, die «Lucerna» habe einen Verlust von über drei Millionen Franken erlitten. Aus einem «Amerika-Geschäft» resultierte allein ein Verlust von über einer Million Franken. Die Stammaktien wurden auf Fr. 25.– und die Prioritätsaktien auf Fr. 400.– abgeschrieben.

    Die Bank J. Burkardt & Co in Zürich, die u.a. bei der «Lucerna» massgeblich beteiligt war, kam in finanzielle Schwierigkeiten. Sie musste das Gesuch um Nachlassstundung einreichen. J. Burkardt war u.a. Verwaltungsratspräsident der Seetalbahn AG und trat als solcher zurück. Im «Hochdorfer-Anzeiger» (Vorgänger des «Seetaler Bote») war unterm 19. September 1909 zu lesen: «Ohne der grossrätlichen Kommission, welche die bedenklichen Beziehungen der Kantonalbank zur ‹Lucerna› zu untersuchen hat, vorzugreifen, kann mitgeteilt werden, dass man im Seetal vom Ausgang des Handels das Schlimmste erwartet… Man spricht schon davon, man könnte das Fabrikgebäude der ‹Lucerna› in ein kantonales Technikum verwandeln…»

    Ab 15. Januar 1910 wirkte Fritz Liechti-Ferrari als neuer technischer Direktor der «Lucerna». Unterm 18. Juni 1910 wurde das Aktienkapital auf 4% des Nennwerts reduziert. Das Jahr 1911 führte zur Katastrophe: Am 2. Oktober musste das Gesuch um Nachlassstundung eingereicht werden. Da der Vertrag nicht zustande kam, eröffnete der damalige Gerichtspräsident (Xaver Elmiger-Suter, Wilhof, Hohenrain) am 14. Dezember den Konkurs.

    Eine niederschmetternde Kunde für die ganze Region. Vorgängig hatten Direktor Bach und Prokurist Grossmann eine Insolvenzerklärung unterzeichnet. Diese beiden Herren waren zuständig, weil vorher der gesamte Verwaltungsrat den Rücktritt erklärt hatte.

    Zwei dicke Bücher geben Aufschluss über das äusserst komplizierte Konkursverfahren. Die Konkursverwaltung stellte in ihrem Schlussbericht fest: «… Der Grund des Misserfolges lag unserer Ansicht nach ursprünglich weniger im Mangel an nötigen Betriebsmitteln – diese waren vielmehr anfänglich reichlich vorhanden – als vielmehr im Fehlen einer tüchigen Leitung… In dieser Hinsicht glauben wir sagen zu dürfen, dass die Leitung des Geschäftes sowohl in technischer als in kommerzieller Beziehung eine verfehlte war.»
    Heute glauben wir, schlicht und einfach sagen zu dürfen, dass man sich bei der Gründung der «Lucerna» offensichtlich «überlüpft» hatte, weil man dieses Riesengeschäft eröffnete, ohne dass man eine erstklassige und sachkundige Führung zur Hand hatte. Das Konkursverfahren zog sich über Jahre hin. Beschwerden, Rekurse, Expertisen und Gutachten lösten einander ab. Schlussergebnis: rund 3,5 Millionen Franken Verlust. Die Schulbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts setzte am 27. Juni 1931 (nach rund 20 Jahren) einen ersten Schlussstrich und am 26. Oktober 1931 erklärte der Amtsgerichtspräsident von Hochdorf das Konkursverfahren als geschlossen.

    An der Konkurssteigerung vom 24. Februar 1912 wurden die Fabrikationsgebäude der «Lucerna» von der bestbekannten Schokoladefabrik Peter, Cailler, Kohler, zum Preis von 1,4 Millionen Franken erworben. Die Schokoladenfabrikation wurde am 11. März 1912 unter Direktor Liechti-Ferrari wieder aufgenommen. Während zehn Jahren (1912–1922) konnte die neue Firma bei der Schoggi-Fabrikation sehr gute Erfolge buchen. Und am 31. März 1922 schlug der Blitz wie aus heiterem Himmel ein. Die Lokalzeitung meldete: «Die Schliessung der Schokoladefabrik Peter, Cailler, Kohler steht bevor. Auf Ende April werden 280 Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen. Ein Teil der Maschinen kommt in die neu eröffnete Filiale in Pattersheim bei Frankfurt (Deutschland) zu stehen… Die Schliessung der Fabrik ist für die Gemeinde Hochdorf und das wirtschaftliche Leben eine Katastrophe. Im ersten Fabrikationsjahr unter Peter, Cailler, Kohler, wurden 21,4% Dividenden verteilt, von 1912 bis 1914 14%, 1915 16%, 1916 18% und 1917 22% Dividenden. Im Jahre 1920 resultierte ein Gewinnsaldo von 9,4 Millionen Franken. In jenen guten Jahren wurden 450 Personen mit einer Lohnsumme von Fr. 600’000.- beschäftigt. Die Fabrik zahlte 30 Prozent der Gemeindesteuern…»

    In einem ausführlichen Brief wandte sich der Gemeinderat von Hochdorf an den Verwaltungsrat der Firma Peter, Cailler, Kohler, mit dem dringenden Appell, auf den Beschluss, die Fabrik zu schliessen, zurückzukommen: «… Wir sind überzeugt, dass Sie volles Verständnis haben für die schweren Folgen, die durch Ihren Beschluss der Gemeinde, der Arbeiterschaft und speziell einer grossen Zahl armer Familien in Aussicht stehen. Wir können es daher nicht unterlassen, Sie hochgeehrte Herren, nochmals dringend zu ersuchen, den folgenschweren Beschluss neuerdings in Erwägung zu ziehen und denselben in wohlwollendem Sinne abzuändern …» Alle diese Bemühungen – auch von Seite der Regierung – nützten nichts. Die Schokoladenfabrik wurde geschlossen und das Personal entlassen.

    Im Jahre 1924 wurden die leeren Fabrikhallen von der Immobiliengesellschaft Schwob.& Co zum Kaufpreis von Fr. 300’000.- erworben. Etwas später hielt die Firma Haushalt AG Hochdorf Einzug in die Gebäude. Diese neue Firma entwickelte sich in der Folge zu einem der blühensten Unternehmen von Hochdorf. Abgesehen vom schweren Schicksal, das viele bedürftige Familien bei den Schliessungen der Schokoladenfabriken «Lucerna» und «Peter, Cailler, Kohler» betroffen hat, ist der wirtschaftliche Verlust heute wieder wettgemacht.

    *Robert Geisseler (1911–2001) wurde anfangs 1930 Kanzlist auf dem Statthalteramt Hochdorf, später Substitut des Amtsschreibers und 1943 selbst Amtssschreiber. 1958 wurde er als Nachfolger von Candid Sigrist zum Amtsstatthalter von Hochdorf gewählt, was er bis zu seiner Pensionierung 1977 blieb. Im Nebenamt betreute er lange Jahre die Redaktion des «Seetaler Boten». Mit seiner Frau Maria Geisseler-Osterwalder lebte Robert Geisseler in Hochdorf, die beiden hatten zwei Kinder.

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