*Kurt Messmer, Emmen
Am 26. Juni 1924 schrieb die Société de la Viscose Suisse an das Fremdenpolizeibüro des Kantons Luzern: «Wie Ihnen bereits bekannt ist, sind wir in der Lage, eine beträchtliche Zahl fadengewandter Arbeiterinnen einzustellen. Wir haben in der gleichen Zuschrift auch darauf hingewiesen, dass wir darauf angewiesen sind, auch ausländische Leute anzustellen.» Zehn Tage später folgte ein weiteres «Gesuch um Erteilung der Einreisebewilligung und Erlaubnis zur Annahme von Arbeit». Diese zweite Liste enthielt die Namen von 21 jungen Frauen, die alle aus demselben Dorf in Oberitalien stammten, aus Lamon in der Provinz Belluno nördlich von Venedig. Die Hälfte davon waren Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Aus einem einzigen kleinen Dorf zogen auf einmal mehr als zwanzig junge Frauen in die Fremde.
Vergleichbare Arbeitsmigration gab es auch in der Schweiz. Allein im Jahre 1923 kamen 18 junge Frauen aus dem Tessin nach Emmenbrücke, meist ebenfalls gruppenweise aus wenigen Dörfern. Eindrücklich sind die Angaben im Arbeiterverzeichnis zum 6. November. An diesem Tag traten miteinander acht junge Walliser Frauen in den Dienst der Viscose. Alle waren zwischen 15 und 17 Jahre alt; alle stammten aus dem Mattertal, sechs aus St. Niklaus, zwei aus Randa. Sieben Mal lautete die Berufsbezeichnung «Landarbeiterin», einmal «Haustochter». Zu Beginn des Winterhalbjahres, wenn es auf den Bauernhöfen nicht mehr viel Arbeit gab, waren sie gezwungen, eine Arbeit in der Fremde anzunehmen. In einer Gruppe von Kolleginnen war das Weggehen von zuhause leichter zu ertragen, und die Eltern vertrauten auf gegenseitige Unterstützung ihrer Töchter in der Fremde.
Der Viscose-Delegierte auf Personalsuche
Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich dieses Bild kaum verändert. In der Woche vom 23. bis 30. Mai 1951 traten 30 Frauen aus Italien in die Viscose ein und erhielten Kost und Logis im fabrikeigenen «Mädchenheim». Und wiederum stammten die Frauen aus der Provinz Belluno – wie jene 21, die den gleichen Weg schon im Jahre 1923 gemacht hatten.
1951 befand sich unter diesen Frauen die damals 24-jährige Maria Conz aus Meano, die später lange Jahre an der unteren Gerliswilstrasse wohnte. Für sie waren jene Erlebnisse unvergesslich, und sie wusste lebhaft von damals zu erzählen: Am Sonntag rief der Pfarrer von der Kanzel aus, dass ein Delegierter der Viscose in der Region sei, bei dem sich Frauen um Arbeit in einer Textilfabrik in der Schweiz bewerben könnten.
Der Delegierte war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung der Betriebspsychologin, Fräulein Ines Meier. Sie führte in einem nahe gelegenen Hotel mit den jungen Bewerberinnen einen Aufnahmetest durch. Bei verschiedenen einfachen Testanlagen, mit Hölzchen und dergleichen, hatten die Frauen ihre Geschicklichkeit und Schnelligkeit unter Beweis zu stellen. Zudem war ein strenger Handtest zu bestehen. Viele bekamen vor Aufregung schweissnasse Hände, kein gutes Zeichen für angehende «fadengewandte» Textilarbeiterinnen. Aus die Chance – es gab Tränen, wie Maria Conz schilderte. Bei negativem Bescheid hätten ihre Kolleginnen versucht, Fräulein Meier umzustimmen, meist ohne Erfolg. Aber manchmal hatte die legendäre Betriebspsychologin ein Einsehen, wie Maria Conz in Erinnerung blieb. Sie selber gehörte jedenfalls zu jenen, die einen Arbeitsplatz in der Viscose bekamen.
Die Glücklichen erhielten nun die Fahrkarte bis Chiasso – noch nicht bis Luzern. Denn an der Grenze erfolgte ein medizinischer Test. Wer ihn nicht bestand, musste die Heimreise antreten. 30 Frauen bekamen schliesslich grünes Licht und setzten ihre Reise über den Gotthard fort. Maria Conz, mit 24 Jahren eine der Älteren, war für das Gruppen-Billett verantwortlich. – In Luzern wurden die Frauen abgeholt. Ein Chauffeur der Viscose hiess sie auf die Brücke seines Lastwagens steigen und bat seine aufgeregten Fahrgäste, sich auf der Fahrt nach Emmenbrücke ruhig und anständig zu verhalten.
Im Viscose-Heim wurden die Frauen freundlich aufgenommen, erinnerte sich Maria Conz dankbar. Etwas zu essen stand bereit, der Schlafsaal war hergerichtet, da und dort hatte es Blumen. Auch am Arbeitsplatz lebten sich die Arbeiterinnen rasch ein. 1951 waren zwei Frauen für eine einzige Maschine zuständig, später betreute Maria Conz zehn oder zwölf neue Maschinen allein. Hin und wieder kam Heimweh auf. Maria Conz setzte sich dann ans Fenster und sang Lieder aus ihrer Heimat – bis einmal ein Polizist kam und ihr diese «Störung» verbat.

In «mütterlich-strenger» Obhut
Im Unterschied zur Metall- und zur Maschinenbaubranche, die in der Zeit der frühen Industrialisierung auf Fachkräfte angewiesen waren, suchte die Textilindustrie bis in die Nachkriegszeit hinein vor allem junge Frauen als Arbeitskräfte. Für solche Arbeiterinnen liess die Viscose 1923 das heute noch bestehende ehemalige «Mädchenheim» bauen. Halb Schloss, halb Kloster, thront es über der Arbeitersiedlung Sonnenhof. Auch die «Schlossallee» fehlt nicht: Eine doppelte Baumreihe unterstreicht die starke Ausstrahlung des Gebäudes.
In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens beherbergte der Bau in seinem Innern einen klosterartigen Internatsbetrieb für junge, ledige Arbeiterinnen aus ländlichen Gebieten und aus dem nahen Ausland, vorwiegend aus Italien. Diese standen unter der Obhut von Ordensschwestern aus Menzingen, die hier ihr «mütterlich-strenges» Regiment ausübten, wie eine ehemalige Bewohnerin rückblickend feststellte. Im Mittelbau des Dachgeschosses bot ein grosser «Betsaal» Platz für 204 Personen. Am Morgen und am Abend wurde gemeinsam gebetet. Von den beiden Speisesälen fasste der grössere 156 Personen. In einem einzigen Schlafsaal waren bis zu 40 junge Frauen untergebracht. Eine Privatsphäre gab es nicht, wurde damals von den jungen Frauen auch kaum erwartet.
Der straffe Betrieb unter der Obhut von Klosterfrauen erleichterte es manchen Familien, ihre Töchter «in die Fabrik zu geben», dazu noch in die Fremde. Bei den jungen Frauen war die strenge Hausordnung weniger beliebt, besonders was Freizeit und Ausgang betraf. Um 20 Uhr hatten alle im Haus zu sein – selbst im Sommer. Wer beim gemeinsamen Nachtgebet unentschuldigt fehlte, büsste im Extremfall mit der Entlassung aus dem Betrieb.
Kein Durchgang für junge Männer
Auf dem Weg von der Sonnenhofstrasse hinauf zum Mädchenheim kam man damals zu einer Tafel, die auf einer Stange gut sichtbar verkündete: «Durchgang für junge Burschen und Männer verboten!» Wer sich mit Bewohnerinnen des «Mädchenheims» treffen wollte, ob flüchtig bekannt oder ernsthaft verliebt, sollte dies wenigstens im gebührenden Abstand von etwa 100 Metern vom Hause tun.
Treffpunkt war auch die Fabrik. Dort begegneten sich Maria Conz aus der Provinz Belluno und der gleichalterige Josef Buss, auch er «Viscösler». Das Schicksal hatte es gut mit ihnen gemeint, und die beiden meinten es gut miteinander für den Rest des Lebens. Nach 63 Ehejahren starb Maria Conz 2014 im Alter von 87 Jahren friedlich in den Armen ihres Mannes. Sie war nicht die einzige ihrer Familie, die in einem anderen Land eine Existenz hatte suchen müssen. Zwei Schwestern heirateten in Frankreich, eine in Deutschland; eine ging ins Bündnerland, eine andere suchte ihr Glück in La Spezia. Der eine Bruder geriet im Zweiten Weltkrieg in russische Gefangenschaft, der andere arbeitete lange Jahre als Saisonnier in der Schweiz.
Maria Conz und ihre Kolleginnen aus anderen Regionen und Ländern verdienen es, dass wir uns am Belluno-Platz an die «fadengewandten Fabrikmeitschi» und ihren Beitrag zur Entwicklung der Viscose und der Gemeinde Emmen erinnern.
Quellen und Fachliteratur
- Staatsarchiv Luzern, PA 501, Archiv der Société de la Viscose Suisse SVS und ihrer Nachfolgefirmen.
- Diverse Befragungen von Zeitzeugen.
- Pfister Ivo und Bärtschi Hans Peter: Siedlungsinventar Emmen, erstellt im Auftrag der Gemeindeverwaltung Emmen vom Büro ARIAS Industriearchäologie, Winterthur, Juni 1990 (Skript, vervielfältigt).
*Kurt Messmer (12. März 1946 bis 7. März 2025)) wurde in Emmen geboren, wo er auch lebte; bis 2011 war er Fachleiter Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Luzern und Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität Freiburg i.Ü.; seither freischaffender Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum; 2014 führend beteiligt an Planung und Realisation des Museums im Rathaus Sempach.