*Alois Bucher-Weber, Ballwil
Die Geschichte ist so unglaublich wie wahr. Noch heute wird sie von einigen alten Ballwilern erzählt. Vier volle Tage lag der junge Sodbrunnengräber Xaver Mattmann, genannt Garibaldi, im tiefen Erdreich begraben. Als er mit Müh und Not aus 80 Fuss Tiefe wider Erwarten lebendig befreit war, umstanden rund 400 Menschen die Unfallstelle, eine Zahl also, die rund der Hälfte der damaligen Landgemeinde Ballwil entsprach.
Was war geschehen? Aus einem deutschen Periodikum von 1882 liegt ein genauer Beschrieb vor. Ein treuer Brattigleser spielte diesen unserer Brattigredaktion zu. Als Verfasser zeichnet ein damaliger Autor namens K. Feierabend. Zweifellos hatte dieser vor 125 Jahren authentisch recherchiert. Lediglich die angegebene Tiefe des Sodbrunnens dürfte nicht ganz dem damals noch teilweise gebräuchlichen Luzerner Fussmass entsprochen haben. Wir geben nachfolgend den Bericht wieder. Zum besseren Leseverständnis — da die Sprache einem steten Wandel unterliegt — wurden lediglich einige Änderungen angebracht.
Erlebnisse eines Lebendigbegrabenen
Im schönen Luzernbiet, im Dorfe Ballwil, eine halbe Stunde vom Amtshauptorte Hochdorf entfernt, lebte ein allzeit fröhlicher Jägertrompeter namens Xaver Mattmann. Seines derben Wesens wegen gaben ihm seine Kameraden den Spitznamen Garibaldi. Der als Volksschriftsteller bekannte Pfarrer Xaver Herzog in Ballwil war sein Taufpate und seine Brüder besorgten den Messdienst. Lange war Mattmann auch Organist in Hochdorf. Später übte er den beschwerlichen und gefährlichen Beruf als Sodgräber aus. So sehr er es liebte, in heiterer Gesellschaft ein Glas guten Most (Apfel- oder Birnwein ) zu trinken und dabei kundtat, er habe eben die Leber auf der Sonnenseite, so unterstützte er doch als treuer Sohn seine alte Mutter nach Möglichkeit mit seinen wenigen Ersparnissen.
Der fatale Einsturz
Im Laufe des Februars 1881 hatte Xaver dem Posthalter, Gottlieb Ineichen in Ballwil, einen 117 Fuss (1. Fuss = 28cm) tiefen Sod (Zisterne) gegraben und ausgemauert. Zu letzterer Arbeit wurden aus Bächen herbeigeschaffte Kugelsteine (Bollen) verwendet. Man fügte diese an den Wänden aufeinander, ohne dabei Mörtel oder Pflaster zu brauchen. Begreiflich haben solche Mauern wenig Festigkeit.
In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar hatten sich einige Steine aus der Mauer gelöst und waren in die Tiefe gestürzt. Am nächsten Tag ungefähr um 3 Uhr nachmittags hatte Xaver unten im Sod die Steine in einen Sack gepackt und rief: «Auf!» worauf sein Gehilfe die Winde in Bewegung setzte. Als Mattmann 10 Fuss über dem Wasserstand im Sod erreicht hatte, stürzten kurz hintereinander zwei Steine von oben herab an ihm vorbei in die Tiefe. Darauf folgten ein gewaltiger Krach und der Einsturz der ganzen Ummauerung. Unten war ein dicker Laden (Flecklig) an der Wand des Sodes angebracht, um als Rost zur Befestigung der Pumpe zu dienen. Mattmann befand sich auf einem festen Bette von eingestürzten Steinen. Von diesen buchstäblich eingemauert, lag er auf dem Rücken. Eine Steinsäule von 82 Fuss lag über ihm. Den rechten Arm hatte er in Kopfhöhe, den linken auf der Brust. Auch über dem mit einem dicken Filzhut bedeckten Kopfe lag ein Stein, zwei neben seinen Backen, einer unter dem Kinn und ein grosser auf Brust und Bauch. Das Zugseil ging über sein Gesicht hinauf. Körperliche Schmerzen fühlte er keine aber bewegen konnte er sich nicht.
Das Zugseil war der Kontakt zur Aussenwelt
Herabsickernder Sand erschwerte ihm zeitweise das Atmen. Er war bei klarem Bewusstsein und überblickte dabei ungetäuscht seine schlimme Lage. Das Zugseil ersetzte ihm teilweise den Dienst eines Telefons. Er hörte deutlich die Kirchenuhr schlagen. Abends halb 7 Uhr vernahm er das Rollen der von Luzern kommenden Abendpost, aber keinerlei Bemühungen zu seiner Ausgrabung. Das brachte den Verschütteten zur Verzweiflung. Er schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Lebhafte Fieberphantasien scheinen ihn zeitweise in tiefer Grabeshaft während den 4 Tagen beschäftigt zu haben. Das eine Mal befand er sich beim Gemeindeammann, den er beschwor, doch unverweilt mit der Ausgrabung zu beginnen, indem er wisse, dass der Verschüttete noch am Leben sei und elend im Grabe verschmachte Ein andermal hatte er zwei grosse Heimwesen gekauft und 30 Stück Vieh angeschafft. Da gab es alle Hände voll zu tun, zu befehlen und anzuordnen. Diese Wahngebilde waren so lebhaft, dass der glücklich Gerettete sich ernstlich besinnen musste, ob sie nicht wirklich wahr seien.
Was ihn in der langen Grabesnacht am meisten quälte, war ein unsäglicher Durst. An Hunger hatte er viel weniger zu leiden, wohl aber an der Furcht, die Verrichtung eines natürlichen Bedürfnisses müsse ihn unfehlbar ersticken. Glücklicherweise stellte sich keinerlei Regung dazu ein. Schlaf muss sich bald für längere, bald für kürzere Zeit eingestellt haben, während dem die bemeldeten Wahngebilde freien Spielraum hatten. Der Gedanke an den guten Most, den er zu Hause hatte, war Xaver besonders quälend.
Zögerlich angelaufene Rettung
Indessen hatte sich auf die Unglückskunde eine grosse Menschenmenge um den eingestürzten Sod versammelt. Der Gemeindeammann nahm als sicher an, der Verschüttete sei tot. Er trug daher wegen drohender Gefahr für die Retter Bedenken, noch in der Nacht mit dem Ausgraben zu beginnen. Indessen hatte der Pfarrer an das Statthalteramt berichtet und einen in der Nähe wohnenden italienischen Strassenunternehmer namens Odoni herbeigeholt, der, obwohl unwohl, doch willig dem Rufe folgte.
Abends 8 Uhr traf von der Oberbehörde in Hochdorf der scharfe Befehl ein, unverweilt mit den Ausgrabungsarbeiten zu beginnen und die Oberleitung demselben Odoni zu übergeben. Montagnachts 11 Uhr wurde endlich mit der Ausgrabung des Schuttes begonnen. Mit Pickeln wurden die Steine sorgfältig gehoben und dann in Kübeln am Seile, das um einen Wellenbaum lief, heraufgezogen. Mattmann hörte deutlich das Pickeln über seinem Kopfe. Es kam ihm vor, als ob eine Schar Hühner in einer Tenne Körner aufpicken. Hatte er bisher aus Ärger über die Tatlosigkeit geflucht, so begann er nun inbrünstig zu beten, dass der Himmel das Rettungswerk gelingen lassen möge.
Nachts 12 Uhr hörten mehrere Personen dreimal nacheinander das Wimmern einer menschlichen Stimme aus der Tiefe. Das galt ihnen als sicheres Zeichen, dass Mattmann noch lebte. Andere Leute erklärten, das Wimmern rühre von der Flamme einer Pechfackel. Bei der nächtlichen Arbeit fallen deren Funken ins Wasser und dadurch werde ein wimmerndes Geräusch bewirkt. Da man dasselbe nachher nicht mehr hörte, nahm man an, der Verschüttete sei den Verletzungen und der Erschöpfung erlegen. Dennoch gingen die Rettungsarbeiten rüstig, wenn auch langsam vorwärts.
Indessen war auf dem Friedhof das Grab gegraben und der Sarg herbeigeschafft worden. Am Donnerstagabend brachte von Hochdorf her ein Knabe eine Totenharfe und einen Kranz, welche die Jungfrauen von Hochdorf ihrem ehemaligen Organisten zur Zierde seines frühen Grabes gefertigt hatten.
Garibaldi lebt!
Bald nachher meldete eine Depesche nach Hochdorf die frohe Kunde, Mattmann lebe noch. Nachmittags vier Uhr hatte ein Arbeiter namens Hartmann dessen Stimme vernommen mit den Worten, sie sollten nur fleissig arbeiten, damit er doch bald erlöst werde. Als dies geschah, umstand eine Menschenmenge von über 400 Personen die Unglücksstätte und harrte bis gegen zwei Uhr morgens auf die Erlösung des Verschütteten. Das nahe Wirtshaus zum Sternen war gedrängt voll.
An guten Ratschlägen und Meinungen, wie jetzt das Rettungswerk am schnellsten zustande gebracht werden könnte, war kein Mangel. Unbeirrt dessen arbeitete Odoni Tag und Nacht unverdrossen weiter. Immer glaubten sie dem Verschütteten näher zu sein, als es in Wirklichkeit der Fall war.
Am Freitagmittag wurde endlich der Stein auf dem Kopfe Xavers weg gehoben und bald darauf der auf der Brust. Odoni flösste dem halb Verschmachteten einige Tropfen Wein und belebende Arzneien ein. Mattmann wünschte lieber den gewohnten Most statt Wein zu trinken. Es währte noch bis abends sechs Uhr, bis der lebendig Verschüttete aus seinem Steingrab befreit war. Odoni band ihn im Rettungskübel mit einem Seil fest und stellte sich hinter ihn, den Arbeiter Hartmann vor ihn. Da befiel letzteren eine lange dauernde Ohnmacht. Odoni musste beide halten. «Schnell auf!» ertönte sein lauter Hilferuf. In wenigen Minuten waren alle drei gerettet.
Garibaldis Galgenhumor
Anfänglich war der Puls bei Xaver nicht mehr fühlbar. Bald aber hob er sich unter ärztlicher Pflege bis auf 100 Schläge. Seine Glieder waren steif und starr, die Haut am Körper mit Blut unterronnen und geschwollen. Das Gesicht mit Kot und Sand ganz überdeckt und entstellt. Er konnte nicht mehr stehen. Unter sorgfältiger Pflege genas der Gerettete langsam. Seine heitere Laune hatte er bald wieder gewonnen. Als sein altes Mütterchen ihn fragte, was er im Grab gedacht habe, entgegnete er lachend: «Ich habe gedacht, jetzt müsse ich keinen Militärdienst mehr tun.» Die Sternenwirtin von Ballwil besuchte ihren Stammgast nach der Rettung ebenfalls und sagte zu ihm: «Xaver, du kannst doch jetzt Gott danken, dass es so gegangen ist.» Darauf bemerkte Xaver: «Ja das ist wahr, aber das sollt ihr auch, denn ihr habt dabei eine gute Losung gehabt.» (Tageseinnahmen)
Hochherzige Mitmenschen
Ein Aufruf an edle Menschenfreunde, dem wunderbar zum Leben erretteten, armen Arbeiter die Mittel zu demselben zu verschaffen, bis er wieder arbeitsfähig sei, hatte einen glücklichen Erfolg, indem in kurzer Zeit eine beträchtliche Summe an Liebesgaben zusammengelegt wurde. 96 lange, bange Stunden war Xaver in schauerlicher Tiefe lebendig begraben, ohne Nahrung und Trank, und hat dennoch den Lebensmut nicht verloren. Dem Mutigen hat Gott geholfen. Odoni freute sich, ein Menschenleben gerettet zu haben, und weigerte sich, für seine Mühewaltung eine Rechnung zu stellen. Ihm gebühret Bürgers «Lied vom braven Mann.»
Keine Geschichte mit Happyend
Die Wunde von einer Schraube an dem Brette, an dem Xaver angepresst war, ist ihm tief ins Dickfleisch hineingegangen und wurde brandig. Der Kranke wurde daher nach Luzern ins Spital geschickt. Dort sah ihn der Verfasser, wie er mit andern Kranken auf einer Bank im Freien an der warmen Frühlingssonne sass. Ihm hat er seine Erlebnisse und Gedanken mitgeteilt.
Als die Wunde heil war, wurde Xaver aus dem Spital entlassen. Trotz seiner Jugend konnte er sich nicht mehr erholen. Er kränkelte für und für. Seine laute Fröhlichkeit hatte sich in eine ernste Lebensanschauung umgewandelt. Gefassten Mutes sah er seinem frühen Lebensende entgegen, das dann am 15. Februar 1882 erfolgte, also wenige Tage vor dem Jahrestage, an dem ihn das Schicksal lebendig begraben hatte.
So weit der Bericht von K. Feierabend; nachfolgend seien einige Anmerkungen erlaubt:
- Der originale Garibaldi, von dem damals die Ballwiler den Namen auf ihren jungen Mitbürger Xaver Mattmann übertrugen, gilt als italienischer Freiheitsheld. Er verteidigte im Jahre 1849 das aufständische Rom gegen die Franzosen. Hierzulande jedoch wurde er als wilder Revolutionär empfunden. Ebenfalls ein Zeitgenosse von Xaver war Leo XIII., einer der grössten Päpste. Dieser setzte mit seiner Enzyklika «Rerum novarum» mutige Massstäbe für eine christliche Lösung der damals besonders brennenden sozialen Frage.
- Unser Titelheld hat seinerzeit auch beim Gemeinderat von Ballwil Gnade gefunden. Im Ratsprotokoll Fol. 215, lesen wir: «Den 22. August 1881 wurde dem Xaver Mattmann, genannt Garibaldi, behufs Anmeldung an die Badarmenanstalt zu Baden ein Armutszeugnis ausgestellt, worin sich der Gemeinderat verpflichtet, die daherigen Kosten zu tragen.» (Zu dieser Zeit mussten im Kanton Luzern 13,3% der Bevölkerung von der Öffentlichkeit, bzw. den Gemeinden, vollständig unterstützt werden.)
- Strassenbauer Odoni, der wie oben positiv vermerkt, unsern Unglücklichen in gewaltiger Anstrengung und kostenlos aus der Tiefe «hervorbuddelte», war ein Vorfahr des heutigen Hans Odoni, Inhaber der Odoni AG, Bauunternehmung in Hochdorf. Die Pionierzeit der Firma begann seinerzeit in Ballwil.
- Der erwähnte Sodbrunnen befand sich nur wenige Meter von der Sternenkreuzung entfernt und lag südseits des heutigen Hauses der Handlung von Frieda Budmiger. Vermutlich war dieser sogar abgeteuft bis in die wasserführende Kiesschicht, die im Jahre 1946 weiter südlich als ergiebiges Grundwasservorkommen von der Wasserversorgung Ballwil angezapft wurde.
- Starb Xaver wirklich an seinen Wunden? War er nicht vielmehr von diesem schrecklichen Ereignis traumatisiert? Hätte ihm damals überhaupt jemand wirksam helfen können? Wir wissen es nicht. Doch lebte er heute, wäre der sympathische und clevere junge Mann sicher zu einem guten Fachmann herangewachsen.
*Alois Bucher-Weber (1932-2021) war Landwirt in Ballwil, Ortshistoriker und Politiker. Aufgewachsen auf dem väterlichen Hof «Wald», blieb er zeitlebens der Scholle verbunden und nahm gleichzeitig politische Aufgaben wahr. Der ruhige, zurückhaltende Bauer war Ballwiler Gemeindepräsident von 1974-1997 und gehörte für die CVP von 1979-1991 dem Grossen Rat an. Mit besonderer Leidenschaft widmete er sich der Familienkunde und Lokalgeschichte.