*Heiri Hüsler, Luzern, «Seetaler Brattig» 2014
Das Staatsarchiv Luzern beherbergt unter Aktennummer 11Q/75 einen Beschwerdebrief, den der Pfarrer von Inwil, Anton Giger, im Jahre 1553 an den Landvogt von Rothenburg richtete. Heute, fast 500 Jahre später, wo wir den Vandalismus und Hooliganismus unserer Tage beklagen, sollten wir uns einmal an die damalige Zeit erinnern.
«Item als sich begen hatt uff der Kylwy zu Ywyll…»
(«Was sich ereignet hat an der Kirchweih zu Inwil…»)
Mit diesen Worten beginnt der Brief von Pfarrer Anton Giger, und er fährt dann fort, dass man nach der heiligen Messe vor dem Hause des Kirchensigristen mit Essen und Trinken und nachher mit Tanzen angefangen habe. Als ihm dies berichtet worden sei, habe er ihnen dies — nach der Vorschrift der heiligen Kirche — verboten, weil ein Unwetter zuvor grossen Schaden angerichtet hätte. Zweitens habe die meiste Zeit während der Kirchweih die Wetterglocke geläutet, und als Hauptgrund: Weil heute der Liebfrauentag sei.
Genützt habe dieses klerikale Verbot allerdings nichts, im Gegenteil, so führt der Pfarrer weiter aus. Einige Tänzer seien auf ihn zugelaufen, und Peter Steiner habe gesagt, dass Uli Boiler die Kirchweih organisiert und grosse Kosten gehabt habe. Er sei also sehr wohl befugt, tanzen zu lassen. Der Pfarrer entgegnete ihm, dass ihm dies nicht erlaubt sei. Dann kam Peter Meier von Gerliswil zum Pfarrer gelaufen und sprach unter lauten Flüchen, er wolle jetzt tanzen, und sollte der Pfarrer einen Herzschlag bekommen. Dann mischte sich noch ein Batt von Utigen ein und hielt einen Degen in der Hand und fluchte derart, dass es der Pfarrer nicht beschreiben mochte. Immerhin habe dieser Lästerungen gegen das heilige Sakrament, die heilige Taufe oder das heilige Leiden Christi ausgestossen. Zuletzt sagte er, er wolle jetzt tanzen, und er frage dem Pfarrer nichts nach, denn dieser sei nicht der Herr von Inwil.
Der Pfarrer entgegnete, dass er sehr wohl der Herr von Inwil sei, was die geistlichen Angelegenheiten betreffe, und schreibt in seiner Beschwerde an den Vogt weiter, wenn ihn nicht ein Sohn des Ammanns von Eschenbach weggeführt hätte, wäre er zweifellos geschlagen worden. Er schliesst dann den Brief mit folgenden Worten:
«Dorum han ich sölliches einem vogtt von Rottenburg angezeytt, dormitt, das ich und ein yettlicher priester beschirmt werdt.»
(«Darum habe ich dieses dem Landvogt von Rothenburg angezeigt, damit ich und jeder Priester beschützt werde.»)
Ein starkes Stück, das sich die lnwiler damals mit ihrem Pfarrer leisteten. Die Zahl der Delikte ist nach heutigem Strafrecht gross: Gewalt und Drohung gegen Behördenmitglieder, Nötigung, unbefugtes Waffentragen, unanständiges Benehmen, Landfriedensbruch, Ehrverletzung bis zu Durchführen einer Tanzveranstaltung ohne Bewilligung. Leider wissen wir nicht wie das Bubenstück zuletzt ausging. Der Vogt von Rothenburg liess die Sache sicher nicht auf sich beruhen, und die Strafen waren damals drakonisch. Aber andererseits — Rothenburg war weit weg.
Ein Gasthaus gab es noch nicht
Wie müssen wir uns diese Kilbi in Inwil vor fast 500 Jahren vorstellen? An der Stelle der heutigen Kirche stand dort eine viel kleinere aus dem Jahre 1275, und das Sigristenhaus war auch noch nicht dort, wo es heute ist. Der Friedhof befand sich auf der Anhöhe hinter den Häusern Hauptstrasse 42-46 und wurde «Beinhausmattli » genannt. Möglicherweise gab es einen Dorfplatz mit einer Linde.
Der Liebfrauentag (Mariä Geburt) ist der 8. September. Ob die Kirche damals der Mutter Maria geweiht war, wissen wir nicht, ebenso wenig, weshalb an diesem Tag nicht getanzt werden sollte. Es gab in Inwil aber damals schon eine Bruderschaft «Unserer Lieben Frau» zu Ehren der Mutter Gottes. Die heutige Pfarrkirche ist den Heiligen Peter und Paul geweiht, und das Patroziniumsfest ist am 29. Juni. Ein Gasthaus gab es damals noch nicht. Ausser dem Pfarrhaus gab es auch keine weiteren Häuser, die nicht zu einem Bauernhof gehörten.
Im Brief steht geschrieben, dass man nach dem Nachtessen, vermutlich also am späten Nachmittag, angefangen habe. Zwei, drei Holztische und ein paar Bänke, mehr wurde nicht aufgestellt. Getrunken wurden wohl Obstwein und Schnaps. Für die Musik sorgte ein Mann mit einem Dudelsack, der damals auch in der Schweiz verbreitet war und hier Sackpfeife genannt wurde. Eine Flöte und eine Trommel gehörten auch zur Tanzmusik, ebenso wie eine einfache Trompete und eine Fidel, wenn es eine grössere Tanzmusik war.
Die Tanzerei fand unter freiem Himmel, aber sicher nicht in der Dunkelheit statt. Wachskerzen waren sehr teuer und der Verwendung in der Kirche vorbehalten. Vielleicht wurde ein Feuer gemacht oder eine Öllampe angezündet. Die meisten Männer trugen damals einen Degen oder zumindest ein Messer, denn Gefahren lauerten überall, nicht zuletzt von den andern Waffenträgern. Raufhändel waren an der Tagesordnung.
Pieter Breughel der Ältere hat den bäuerlichen Festen der damaligen Zeit zwei herrliche Gemälde gewidmet. Zwar hat er sie in seiner Umgebung im heutigen Südholland gemalt, doch waren die Sitten und Bräuche weitherum gleich. Wenn man diese Bilder betrachtet, kann man sagen, dass es damals in Inwil wohl auch nicht viel anders gewesen war.
Der beschriebene Vorfall zeigt, dass das Verhältnis zwischen Klerus und der Bevölkerung nicht ungetrübt war. Der Bauernstand wurde von den gebildeten Leuten und vom Adel nicht sehr geschätzt. Lesen und Schreiben konnte ausser dem Pfarrer kaum jemand. Viele junge Männer waren durch die Reisläuferei verroht. Die katholische Kirche befand sich in einer grossen Krise, und die Reformation teilte die Schweiz in zwei verfeindete Lager. Aber auch der Hexenwahn führte zu zahlreichen Verdächtigungen, Prozessen und Hinrichtungen. Der Henker von Luzern bekam für das Hängen eines Verurteilten einen Rheinischen Gulden und für das Verbrennen deren zwei. Die Pest trat immer wieder auf und dezimierte die Bevölkerung ganzer Landstriche. Trotzdem strotzten die Menschen vor Vitalität und Lebensfreude.
Pfarrer Anton Giger, so viel ist ebenfalls belegt, war damals Pfarrer in Inwil. 1555 ist er als Dekan (Vorsteher) des Kapitels Hochdorf erwähnt und 1569 als Pfarrer in Ruswil. Er starb 1571.
Keine Erfindungen unserer Tage
Die Kirchweihfeste führten in alten Zeiten immer wieder für behördlichen Ärger. Die Gründe waren insbesondere die Auswüchse und die Anzahl der Kilbenen, denn fast jeden Sonntag war irgendwo Kilbi mit Musik und Tanz, Alkoholgelagen und allen negativen Folgen. Viele Leute zogen dann sozusagen von Kilbi zu Kilbi, denn die Kosten wurden durchwegs von der Kirche getragen. Deshalb verlegte eine obrigkeitliche Verordnung, vermutlich im 17. Jahrhundert, alle Kirchweihfeste der Pfarrkirchen auf den 2. Sonntag im Weinmonat (Oktober). Nur einige Nebenkirchen und Kapellen blieben ausgenommen, und so ist es bis heute geblieben.
Die Kirchweihfeste und Kilbenen haben die Behörden heute im Griff, und wenn wir von Fussballrowdys, Hooligans und Vandalen reden, so müssen wir bedenken, dass es das alles schon gab, wenn auch 1553 noch ohne Pyros. Selbst die sexistischen Kleider sind keine Erfindung unserer Tage, was die Beinkleider der abgebildeten Tänzer deutlich beweisen.
Sollen wir uns deshalb aufregen, wenn es dieser Tage nach einem Fest im «Möösli» am andern Morgen im Dorf etwas «anders» aussieht? Die Nachtbuben sind ja die Nachkommen jener Boller, Steiner, Meier und Batt von 1553, und die Polizei, so dünkt es mich manchmal, ist von Inwil mindestens so weit entfernt wie damals der Vogt zu Rothenburg.
Quellen:
- Staatsarchiv Luzern
- Dr. phil. Stefan Jäggi, Kurs «Alte Schriften lesen»
- Klemens Furrer, Ballwil
- Stephan Gyr-Schacher, Festschrift 1980
- «Der Canton Luzern» von Dr. Casimir Pfyffer, 1858
- «Luzerner Chronik des Diebold Schilling», Faksimile Verlag Luzern
- «Chronik der Schweiz», Ex Libris Verlag, Zürich
- Wikipedia
Heiri Hüsler (geboren 1944), aufgewachsen in der Dorfbäckerei Inwil, mit 16 Jahren Lehre als Matrose auf dem Rhein, ab 1968 bis zur Pensionierung 2006 Stadtpolizist in Luzern, verheiratet, eine Tochter und zwei Enkel, lebt in Luzern, Verfasser mehrerer Bücher und Broschüren mit Geschichten aus dem «alten» Inwil, liebt zusammen mit seiner Frau Myrta lange Reisen mit Frachtschiffen.