Ein Bild, an das sich die ältere Generation noch erinnert: die Milch wird in Bränten zur Hütte - Chäsi – gebracht, Bäri zieht den Karren. Eine Illustration von Ludwig Suter. | © 2017 Seetaler Brattig

*Peter Chrisen-Mehr, Aesch

Aesch, ein typisches Bauerndorf! Die Leute leben von der Land- und Milchwirtschaft. Sechzig Bauern liefern zweimal im Tag die Milch in die Dorfkäserei. 365 Tage im Jahr. Nebst dem «Kreuz» und der «Metzgerhalle» ist die Käserei der Mittelpunkt im Dorf. Hier vernimmt man das Neuste über das Geschehen im Dorf. Es wird politisiert oder auch schlicht und einfach über Gott und die Welt philosophiert.

Mein Vater, ein bodenständiger Käsermeister, kaufte über Jahrzehnte die Milch von den Aescher Bauern. Er war Milchkäufer. Dies mit Leib und Seele. Die Milch verarbeitete er täglich zu vier ungefähr 100 Kilo schweren Emmentaler-Käsen. Käse, der aufgrund der grossen Löcher vorwiegend nach Italien exportiert wurde. Etwas mehr als vier tausend Kilo Milch verkäste er täglich. 1.6 Millionen Kilo Milch im Jahr.

Zweimal täglich: Der Gang zur Hütte

Einem Ritual gleich brachte jeder Bauer zweimal pro Tag seine Milch in die Käserei. Landläufig wurde die Käserei als Hütte bezeichnet. Sechs bis sieben Uhr morgens und abends war Milchannahme. In der Regel passierte dies pünktlich wie ein Uhrwerk.

Kam Furrer Hans mit seinem Deutz von der Ess her ins Dorf gefahren, so wusste Stalder Nina haargenau, dass es an der Zeit war, aufzustehen. Spannte Rust Hermann abends seinen Berner Sennenhund vor den Milchkarren, so merkten auch Brunner Gritlis Buben, dass es Zeit fürs Znacht war. Nicht selten richteten auch Leute, die nicht in der Landwirtschaft tätig waren, ihren Tagesablauf nach dem Hüttengang eines benachbarten Bauern. Die ganze Dorfgemeinschaft kam so zu einer Tagesstruktur.

Hin und wieder konnte es vorkommen, dass dieser Tagesablauf zünftig durcheinandergebracht wurde. Dies vor allem zur Herbstzeit, wenn eine Obstabgabe etwas gar üppig ausgefallen war. Dies zur Freude der Wirtsleute, doch sehr zum Leidwesen des Käsers.

Die Milchannahme

Fein säuberlich wurde jede Milcheinlieferung gewogen. Erste Erkenntnisse über die Hygiene bei der Milchgewinnung wurden mit der Siebprobe gezogen. Nicht jeder Bauer arbeitete den Vorschriften entsprechend. Vielfältig waren die Antworten, wenn es Grund zur Beanstandung gab. Sehr gewissenhaft war aber jeder, wenn es um das Gewicht der Milchlieferung ging. Jedes Gramm zählte! Sorgfältig notierte der Käser das Gewicht auf einer grossen Schiefertafel. Für jedermann gut sichtbar. Manchen Bauern interessierte die Menge des Nachbauern mindestens so sehr wie die eigene Lieferung.

Jeder besass ein persönliches Milchbüechli. In diesem wurde das Gewicht zusätzlich vermerkt. Dieses Büechli wurde vom Hüttebueb zu Hause vorgelegt. Somit wusste auch der Meisterbauer, wieviel Milch er seinen Kühen entlockt hatte.

Der ständige Kampf mit den Bauern

Die Bauern verkauften dem Käser ihre Milch für einen vom Bund festgelegten Preis. Im Gegenzug erteilte die Eidgenossenschaft dem Milchkäufer eine Abnahmegarantie für seinen produzierten Käse. Das Käsereigebäude und die Fabrikationsanlagen waren im Besitz der Milchbauern. Als Entgelt für die Benutzung ihrer Anlagen entrichtete mein Vater einen Hüttenzins an die Käsereigenossenschaft. Dieser Obolus wurde jährlich neu verhandelt. Aus Sicht meines Vaters fiel dieser jeweils mehr als nur angemessen aus. Je näher der Termin des jährlich wiederkehrenden Milchkaufes kam, desto tiefer waren die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Am Verhandlungsabend trug er ein ziemlich abgelatschtes Schuhwerk und die älteste Kleidung. Sämtliche Register wurden also gezogen, um das karge Einkommen des Käsers zu dokumentieren. Andernfalls hätte man (sprich Bauer) ja meinen können, beim Käser sei der Wohlstand ausgebrochen…

Mit eigens produzierter Nidle, Anken, Zieger sowie anfänglich auch Glacé erwirtschaftete die Käsersfrau ein Zusatzeinkommen im eigenen Laden. Jeder Lieferant war verpflichtet, Produkte im Gegenwert von zwei Prozent seines gelieferten Milchwertes zu beziehen. Wurde dies nicht erreicht, war dies ganz und gar nicht im Sinne des Käsers. Sichtete mein Vater gar noch die fehlbare Bauersfrau mit einer prall gefüllten Migros-Einkaufstasche im Dorf, war zünftig Feuer im Dach. Ab sofort und bis auf Weiteres entzog mein Vater dem jeweiligen Bauern die Mithilfe beim Entleeren der schweren Milchbrännte. Gross war seine Genugtuung, wenn sich beim Gegenüber die Gesichtsfarbe von Zartrosa hin zu einem satten Dunkelrot verfärbte. Christen hat so seine Tricklein…

Unterweges mit einer Tasche voller Geld

Einmal im Monat war Milchzahltag. Abwechselnd in einem der beiden Aescher Wirtshäuser wurde jedem Bauern sein Milchgeld ausbezahlt. In barer Münze – in die Hand.

Am Vortag des Milchzahltages reiste meine Mutter nach Luzern. Zwei, manchmal drei Kinder waren mit dabei. Gekleidet im schönsten Sonntagsgewand. Als Jüngster durfte ich auf dem Gepäckträger von Mutters Fahrrad bis nach Mosen mitfahren. Zwei meiner fünf Geschwister nebenher, zu zweit auf Vaters Velo. Eine grosse, braune Ledertasche platzierte Mutter auf meinem Schoss. Ein exquisites Stück. Eigens vom Sattler Albisser für den Käser genäht. Robust und von bester Qualität. Auf diese Tasche hatte ich aufzupassen. Noch war sie leer!

Ab Mosen ging die Reise mit der Bahn weiter nach Luzern. In der Stadt angekommen, wurden erst ein paar Aufträge ausgeführt. Waren diese erledigt, begaben wir uns zum eigentlichen Ziel: Zur Geldausgabestelle des Milchhofes Luzern. Im ersten Stock des stattlichen Patrizierhauses wurden wir erwartet. Ernst war die Miene des Beamten, der uns einen überaus ansehnlichen Stapel voller Banknoten aushändigte. Fein säuberlich sortiert. Dreifach gezählt. Dies war das Entgelt für den Rahmverkauf. Rahm, ein Nebenprodukt, das bei der Käseherstellung anfällt. Den Rahm verkaufte mein Vater der Butterzentrale Luzern.

Nun nahm meine Mutter die grosse, braune Ledertasche an sich. Mit dem nächsten Zug reisten wir zurück ins Seetal. Einen Zwischenhalt legten wir in Hochdorf ein. Wieder wurden Einkäufe getätigt. Auch hier war das Ziel immer das Gleiche: Die Volksbank in Hochdorf. Und wieder liessen wir uns zünftig Geld auszahlen. Proppenvoll war die braune Ledertasche. Mehr als 200‘000 Franken dürften darin gewesen sein!

Ab sofort stand die braune Ledertasche definitiv im Mittelpunkt unseres Geschehens. Mutter hielt in ihrer Linken die Geldtasche, an ihrer Rechten eine Tschoppelete Kinder. Mit dem Seetaler ging die Reise weiter nach Gelfingen. Darauf freute sich meine Mutter sehr.

Der erste Halt war jeweils bei Tante Berta in der Post. Im Postbüro durften wird das Geld vorübergehend im Kassaschrank einschliessen. War die braune Ledertasche in Sicherheit, liess sich doch viel unbeschwerter schwatzen. Weitere Verwandtenbesuche folgten.

Punkt halb sieben fuhren wir mit dem Postauto zurück nach Aesch. Leu Alfred, der Chauffeur, war wohl nicht der Einzige, der wusste, mit was für einer kostbaren Fracht die Käser-Familie unterwegs war. Immer am vierten Arbeitstag im Monat, zwölf Mal im Jahr. Völlig unauffällig.

Zu Hause angekommen, wurde das Geld noch am selben Abend für die Auszahlung an die Bauern vorbereitet. Der Stubentisch war mit Geld überhäuft. Haufenweise stapelte sich das Geld. Fünfliber, Zwanziger-, Fünfziger-, Tausendernoten… Stapelweise lag es auf dem Tisch. Vater errechnete, wieviel Barschaft jedem Bauer zustand. Mutter entnahm das Geld dem Haufen und steckte es in ein weisses Leinensäckchen. Auf jedem Säckchen war mit rotem Faden die Hüttennummer des Empfängers aufgenäht.

Nummer 1: Adolf Herzog, Berg, bis Nummer 60: Anton Helfenstein, Unterdorf. Ein jedes dieser Säckchen glich dem Anderen – tupfgenau! Nur ein einziges Beutelchen wich im Aussehen von allen anderen Säckchen ab. In der Form als auch in der Beschriftung. Es war die Nummer 35: Fridolin Muff, Laubsack. Warum dies so war, konnte mir niemand erklären. Es war, wie es war. Jahrzehnte später sollte sich dieses Geheimnis lüften – ganz unerwartet.

Milchzahltag – Bar in die Hand

Abwechselnd im «Kreuz» oder in der «Metzgerhalle» erfolgte am folgenden Abend die eigentliche Geldauszahlung. Vielleicht war es Käser Christen nicht immer ganz so geheuer, wie er es vorzugeben schien. Gewiss ist, dass meine Mutter ihn jeweils vom Küchenfenster aus beobachtete, bis er ins nahegelegene «Kreuz» eingetreten war. War der Zahltag in der «Metzgerhalle», so nahm er nicht ungern hinter der Käserei den direkten Weg dorthin. Durch den hinteren Kücheneingang trat er in die Gaststube ein. Cheri, der Schosshund von Alt-Wirtin Lina, zeigte sich ob des aussergewöhnlichen Eintrittes nicht immer sehr erfreut. Mit lautem Kläffen und Knurren liess er sich dies auch anmerken. Käser Christen, nicht zimperlich im Umgang mit Cheri, wusste die unbeobachteten Momente von Lina auszunutzen, und musste sich an Cheri vorbei den Zugang zur Gaststube buchstäblich erkämpfen. Auch hier wird Christen wohl sein Tricklein gehabt haben.

Mit sechzig weissen Stoffsäckchen, sorgfältig verpackt in der braunen Ledertasche, setzte sich Käser Christen mit einem Römer Johannisberg ins Säli. Ein Bauer nach dem anderen kam vorbei und liess sich seinen Zahltag auszahlen. Bar in die Hand, auf Franken und Batzen gezählt.

Das geheimnisvolle Säckchen Nr. 35

Vor einiger Zeit kam ich mit demjenigen Bauer ins Gespräch, dem dazumal das Säckchen mit der Nummer 35 gehörte. Fredu Muff, Bauer in dritter Generation auf dem Hof Laubsack. Fredu war beim Heuen. Meine Familie und ich beim Spazieren. Heiss war es. Ein kurzer Schwatz kam allen gelegen. Fredu erzählte mir seine Familiengeschichte. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann. Eine Geschichte auch, die das Geheimnis vom etwas anderen Milchgeldsäckchen löste.

Alles andere als gut betucht musste die kinderreiche Familie gewesen sein. Nach der Jahrhundertwende zog sie mit Ochs und Wagen von Römerswil nach Aesch. Ihr gesamter Plunder habe auf einem klapprigen Wagen Platz gefunden. Und obenauf die Kinderschar. Zwei oder drei Liegenschaften waren dazumal in Aesch zum Kauf feil. Vater Muff entschied sich für den Hof Laubsack. Ein wenig abseits vom Dorf und wunderschön gelegen. Nicht die prächtige Seesicht sei für den Kauf ausschlaggebend gewesen. Nein, es war ein praktischer Grund. «Lieber das Bätti (den Rosenkranz) am Sonntag weit in die Kirche tragen, als den Mist weit weg von der Scheune zetteln»: So habe die Bauersfrau später den Kaufentscheid begründet. Dies in Anspielung darauf, dass ein grosser Teil der zu bewirtschaftenden Felder in unmittelbarer Nähe der Scheune waren. Schwierig waren die Zeiten. Mit viel Arbeit baute sich die junge Bauernfamilie eine Existenz auf. Angesehen waren die Muffs und rechtschaffend. Das karge Einkommen erarbeiteten sie in der Milchwirtschaft.

Ein schweres Schicksal brachte der 14. März 1932. Bauer Muff ging an diesem verregneten Sonntag zur Milchzahlung ins Restaurant Kreuz – und kam nie wieder zurück. Ordnungsgemäss hatte ihm der Käser das Milchgeld ausbezahlt. Eine Hunderter- und eine Fünfzigernote und den Rest in Silber. Ein Glas Most am Stammtisch, ein Schwatz mit seinen Nachbauern – die Barschaft fein säuberlich im weissen Leinensäckchen verpackt, und dieses gut in der Jackentasche versorgt. Ohne besondere Vorkommnisse begab sich der Landwirt auf den Heimweg. Doch vergebens wartete die Familie zu Hause.

Wohl litt der Bauer zeitweise an geringer Orientierungslosigkeit, dies aber nicht in einem Ausmass, das den Seinen einen Grund zur Besorgnis hätte geben müssen. War es ein Unglück? Oder gar ein Verbrechen? Intensiv fahndete der Landjäger. Güllenlöcher wurden entleert. Wassergräben ausgeschaufelt. Zugeschüttete Gruben erneut geöffnet. Alles ohne Erfolg. Eine Vermisstenmeldung in der Luzerner Presse brachte den gewünschten Hinweis auch nicht. Franz Josef Muff war und blieb verschollen.

Drei Monate später, am 9. Juni 1932, fand man den Leichnam von Franz Josef Muff im See. Der Bauer war ertrunken. Noch immer steckte das weisse Leinensäckchen mit der Nummer 35 in seiner Jackentasche. Die Barschaft komplett. Aufgelöst und fadenscheinig sei das weisse Stoffsäckchen gewesen. Für eine weitere Verwendung nicht mehr zu gebrauchen.

Zwei Tage später wurde der Verstorbene unter grösster Anteilnahme der Dorfbevölkerung beerdigt. Alles wies darauf hin, dass Bauer Muff infolge einer vorübergehenden Orientierungslosigkeit den Heimweg nicht mehr gefunden hatte. Ein Verbrechen wurde ausgeschlossen.

Somit ist geklärt, warum sich das weisse Leinensäckchen mit der Nummer 35 in Form und Aussehen von den Übrigen unterschied. Scheinbar wurde ein nachträglich genähtes Säckchen als Ersatz verwendet. Ein Säckchen, das mit den 59 anderen Täschchen noch viele weitere Jahre im Einsatz war.

Und heute….

Die Aescher Dorfkäserei ist Geschichte. Für einen Schwatz trifft man sich beim Badi-Kiosk. Oder man macht mal schnell ein WhatsApp oder einen Chat. Die Zahlung des Milchgeldes, bar in die Hand, ist längst passé. Den noch sechs Aescher Milchbauern wird der Lohn online auf ihr Bankkonto überwiesen. Es braucht keine Käsersfrau mehr, die mit einem Haufen Geld auf Reisen geht.

Das Leben hat sich verändert. Vermessen wäre zu behaupten, die heutigen Zeiten seien schlechter als die früheren. Sie sind nur anders – und halt nicht mehr ganz so überschaubar wie damals.

*Peter Christen-Mehr (geboren 1964) lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Aesch. Der Käsermeister arbeitet bei einem führenden Schweizer Milchverarbeiter im Bereich Verkauf. In seiner Freizeit geniesst er seine Familie – am liebsten am schönen Hallwilersee.

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