11. Oktober 2025
Zwei Zeitungsinserate für Angebote von Pauline Wyder-Ineichen, abgedruckt in der Brattig 2004. Wo und wann sie erschienen, ist nicht bekannt. | © «Seetaler Brattig» 2004

*Werner Lustenberger, Adligenswil, «Seetaler Brattig» 2004

Um die Volksgesundheit stand es damals nicht zum Besten. Nach einem Zehnstundentag in der Fabrik fehlte vielen der verheirateten Frauen die Kraft, noch an den Kochherd zu stehen und für ein währschaftes Mahl zu sorgen. Wer wollte es ihnen verargen? Keine von ihnen hatte je eine Schulküche gesehen, und wer schon als Halbwüchsige in die Fabrik ging, konnte das Haushalten daheim nicht erlernen, wie es sonst üblich war. Suppenwürfel gab es noch keine, und oft genug hatten sich mehrere Mieter in einen Herd zu teilen, was immer wieder zu Streitereien führte. Da zog es mancher Arbeiter vor, den Abend in der Wirtschaft zu verbringen.

Besonders alarmierend war die Nachricht, dass immer mehr auch Stellungspflichtige aus ländlichen Gegenden wegen ungenügender oder falscher Ernährung schwerwiegende Mängel aufwiesen. Das hing mit dem Aufkommen der Dorfkäsereien zusammen. Besonders verschuldete Bauern trachteten darnach, den letzten Tropfen Milch abzuliefern, um zu Geld zu kommen. Auf dem Küchentisch verblieben Kartoffeln, Zichorienkaffee und Schnaps.

Das Problem wird an der Wurzel gepackt

Da beschloss die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, Gegensteuer zu geben. Man fand, die Frauen müssten besser auf ihr Wirken im Haus vorbereitet werden. Eine gesunde Ernährung würde mithelfen, Alkoholmissbrauch, Mangelkrankheiten und Fehlentwicklungen zu bekämpfen. Die Gesellschafter bestellten eine Kochschulkommission und beauftragten sie, dieses Problem anzugehen. Sie fand sich in derselben Lage wie mancher Entwicklungshelfer unserer Tage: Das Ziel war klar, das Tätigkeitsfeld unermesslich und entsprechend ausgebildete Lehrkräfte gab es weit und breit keine.

Da erinnerte sich ein Teilnehmer, von Kochkursen gehört zu haben, die im Auftrag des Luzerner kantonalen Bauernvereins 1879 in Nebikon und im Jahr darauf in Malters erfolgreich waren, und verwies auf eine tüchtige Kursleiterin namens Pauline Wyder-Ineichen. Schon in jungen Jahren aufgeschlossen und zielstrebig Diese Frau entstammte einer angesehenen Familie aus dem Seetal. Ihr vielseitiger Vater, Heinrich Ineichen, war Lehrer und Landwirt, Posthalter und Gerichtsschreiber, Mundartforscher und Publizist. Er vertrat die Liberalen im Grossen Rat und im Erziehungsrat. 1840 kam Pauline als drittes der zehn Kinder zur Welt. Nach Abschluss der Dorfschule Ballwil durfte sie noch während eines Jahres in der Stadt die nächsthöhere Klasse besuchen. Weil sie sich bei den Handarbeiten besonders geschickt zeigte, liess man sie früh schon die Mädchen ihres Dorfes in diesem Fach unterrichten. Mit 21 Jahren heiratete Pauline und stand bald einer eigenen siebenköpfigen Familie vor. 1881 trat sie in den Dienst der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, und zwar als hauswirtschaftliche Wanderlehrerin.

Nach vier Jahren hatte sie bereits in zehn Deutschschweizer Kantonen 30 Koch- und Haushaltungskurse erteilt, zwei Jahre später sollten es 38 in zwölf Kantonen sein, und am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit blickte sie auf über hundert Kurse mit etwa 1600 Teilnehmerinnen zurück. Ihre Auftraggeber beschafften ihr ein Mikroskop, mit dem sie den Unterschied zwischen rohen und gekochten, frischen und verdorbenen Lebensmitteln zeigen konnte. Wichtiger noch war die Anschaffung eines transportablen Herdes, welcher der Kursleiterin viel Ärger mit gemieteten Kochstellen ersparte, von denen jede ihre eigenen Tücken aufwies.

Solche Kurse fanden auch im Kanton Luzern statt, so etwa anfangs 1883 in der Hauptstadt und im Juli im Emmenbaum. Dieser Sommerkurs kam mit Unterstützung des Kantons, der Gemeinde und einer sozialen Einrichtung der Von Moos’schen Eisenwerke zustande, die sich «Halbwollenverein» nannte. Der Erfolg blieb auch hier nicht aus. In einem der Jahresberichte der Gemeinnützigen Gesellschaft lesen wir, Frau Wyder sei «von unermüdlichem Fleiss und Eifer für die so notwendige Verbreitung einer besseren beruflichen Bildung der weiblichen Bevölkerung beseelt.“

Mit den Jahren empfand sie das Herumziehen zunehmend als belastend und ermüdend. In ihrem 45. Lebensjahr war sie in der Lage, die ausserhalb der Stadt Luzern gelegene Liegenschaft Reussport 4 zu erwerben und eine eigene Haushaltungsschule einzurichten. Ihre Kurse dauerten zwischen einem Monat und einem Vierteljahr. Der letzte fand 1894 statt.

Es braucht Hauswirtschaftslehrerinnen

In der Kochschulkommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft war man sich schon früh darüber im Klaren, dass so kurze Kurse «nur eine Art Treibhausbildung» ermöglichten. Als nächstes Ziel fasste man die Gründung von eigenständigen Haushaltungsschulen ins Auge. Doch dazu fehlten noch immer die nötigen Lehrerinnen. Als dann Bund und Kantone deren Ausbildung in einem Jahreskurs zu unterstützen versprachen, wandte sich die Kommission erneut an Pauline Wyder-Ineichen, diesmal mit der Bitte, in ihrem Luzerner Haus die ersten Hauswirtschaftslehrerinnen der Deutschschweiz auszubilden.

Sie musste sich schriftlich verpflichten, die Teilnehmerinnen zu befähigen, dereinst Koch- und Haushaltungskunde zu unterrichten. Sie hatte «den Zöglingen nebst mütterlicher Aufsicht und Pflege vollständig freie Station mit guter bürgerlicher Kost und mit Inbegriff der Wäsche zu gewähren». Ferner hielt der Vertrag fest, dass eine örtliche Aufsichtskommission den Betrieb überwachen und alle drei Monate «in Hinsicht auf Sitte, Fleiss und Fortschritt eingehende Zeugnisse» ausstellen werde.

Der Jahreskurs auf Reussport

Anfangs März 1887 trafen die ersten zehn Kandidatinnen zur Ausbildung an, nämlich drei aus dem Kanton Luzern, zwei Zürcherinnen, zwei Aargauerinnen sowie je eine aus Bern, Solothurn und Appenzell. Die jüngste zählte 17, die Älteste 47 Jahre. Entsprechend unterschiedlich waren Vorbildung, Praxis und Lebenserfahrung.

Ihr Tagwerk war reichlich ausgefüllt. Frau Wyder und ihre Älteste übernahmen den Unterricht in Hauswirtschaftskunde, Kochen und Handarbeiten. Lehrbeauftragte aus der näheren Umgebung erteilten Deutsch, Singen und Buchhaltung, Gemüsebau, Lebensmittel- und Gesundheitslehre. Die Schlussprüfung fand am 13. und 14. Februar 1888 statt, und zwar erst im neu erstellten Museggschulhaus, am zweiten Tag dann auf Reussport. In freier Rede legten die Kandidatinnen ihre Kenntnisse über Ernährungs- und Haushaltfragen, Brennmaterial oder Leinenzeug dar und gaben Auskunft über den Verdauungsapparat, den Anbau von Flachs oder übers Anlegen eines Frühbeetes. Am Schluss sagte der Vertreter der Gemeinnützigen Gesellschaft, Frau Wyder habe einmal mehr bewiesen, «wie wohlverdient der Ruf sei, den sie im ganzen Schweizerlande geniesse».

Das Ringen geht weiter: Zeitschrift, Frauenverein, Kochbuch

In den folgenden sechs Jahren bot Frau Wyder erneut Kochkurse in eigener Regie an und eröffnete an der St. Karlistrasse eine Pension, die während der Sommermonate für Erholungsbedürftige und Familien gedacht war. Nicht genug. Sie überzeugte die nahegelegene Buchdruckerei Keller von der Nützlichkeit einer Beilage zum «Luzerner Tagblatt», die ab 1888 als «Schweizerisches Haushaltungsblatt» erschien. Themen wie Ernährung, Gesundheitspflege und Kindererziehung sowie Kochrezepte und Tipps für den Haushalt standen im Vordergrund. Frau Wyder schrieb knappe, sachliche Beiträge, etwa über die Wichtigkeit von Kostenberechnungen im Haushalt, über gute und preiswerte Ernährung oder nützliche Kücheneinrichtungen. Mit der Feder wusste sie offensichtlich ebenso gut umzugehen wie mit dem Kochlöffel.

Das Blatt bot ihr überdies Gelegenheit, Leserinnen für den Zusammenschluss in einem Luzerner kantonalen Frauenverein zu gewinnen. In kurzer Zeit waren 300 Mitglieder geworben, denen die Initiantin während den ersten Jahren vorstand. Auch hier ging es ihr darum, Töchter zu fördern und das Haushaltwesen zu verbessern. Später ist aus diesem Verein eine Sektion des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins geworden.

Schliesslich erschien 1893 im Selbstverlag ihr «Lehrbuch für die bürgerliche Küche» und ihr guter Ruf wurde durch den Auftrag bestätigt, das «Berner Kochbuch» von Jenny Ebert mit seinen anderthalbtausend Rezepten für die 9. Auflage nach ihrer eigenen Methode vollständig umzuarbeiten.

Familiäre Schwierigkeiten

Die Achtung vor dieser tatkräftigen Frau, die so ungemein segensreich gewirkt hat, wird noch erhöht, wenn man sich die familiären Hindernisse vergegenwärtigt, die sie zu meistern hatte. In jungen Jahren verehelichte sie sich mit dem Tierarzt Adam Wyder, der in Hochdorf anfänglich mit Erfolg praktizierte. Doch dann fing der Mann zu trinken an, vernachlässigte seine Familie und verlor die Kundschaft. Im Freiburgischen versuchte er sich als Wirt, doch das Abenteuer schlug fehl. Die Frau sah sich gezwungen, ihn seinem Schicksal zu überlassen und mit den Kindern wegzuziehen. Für deren Ausbildung musste sie fortan alleine aufkommen. «Den Kummer und das Leid, was mir dieses Missverhältnis gebracht, will ich nicht beschreiben. Gott weiss es.» Das schrieb nicht unsere Pauline, sondern ihr Vater, der seiner unglücklichen Tochter in allen Lagen zur Seite stand.

Die Saat geht auf

Es brauchte einige Zeit, bis die Absolventinnen des Studiengangs auf Reussport passende Stellen gefunden hatten. Doch mit den Jahren nahmen, übers ganze Land verteilt, Haushaltungsschulen ihre Tätigkeit auf. 1896 waren es bereits 31. Die Volksschule aber musste teilweise weit ins 20. Jahrhundert hinein zuwarten, bis Hauswirtschaft zum obligatorischen Unterrichtsfach aufrücken konnte.

Bis zu ihrem Tode im Jahre 1918 durfte Pauline Wyder-Ineichen diese erfreuliche Entwicklung noch mitverfolgen. In seinem Nachruf erinnerte das «Luzerner Tagblatt» an die führende Rolle, die unsere Seetalerin beim Aufbauen und Gestalten des hauswirtschaftlichen Unterrichts gespielt hatte, und an die Verehrung und Dankbarkeit, die ihr die ehemaligen Schülerinnen noch immer entgegenbrächten. Weil ihr die Bedürfnisse und Nöte der kleinen Leute so gut vertraut waren, sei es ihr gelungen, das Richtige zu tun und landesweit wirksame Besserung zu schaffen.

* Ältere Generationen kannten Werner Lustenberger (1924–2020, Adligenswil) als Bildungspolitiker: Lehrer, Dr. phil., Gründungsdirektor des Schweiz. Instituts für Berufsbildung (heute: Eidg. Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB) in Bern. Andere kannten ihn als langjährigen Kommandanten der Seetaler Füsilierkompagnie II/44. Und vielen wurde er durch zahlreiche historische Beiträge bekannt, so auch zu den Plänen eines Panzerübungsplatzes auf dem Lindenberg in den Fünfzigerjahren.

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