*Walter Schmid, Hildisrieden, «Seetaler Brattig» 2015
In der bäuerlich geprägten Pfarrei Hitzkirch verbrachten die Jugendlichen die Sommerferien der 50er-Jahre vor allem auf dem Hof der Eltern oder bei Verwandten. Die Kinder des Landarztes Dr. Fischer aber konnten schon damals von ihren tollen Erlebnissen im «Triengerlager» erzählen und ermunterten auch uns Hitzkircher Kinder zur Teilnahme. Und so vermittelte die Arztfamilie als Bürger von Triengen ein kleines Kontingent «Hitzkircher». Mein Bruder durfte das Lager in Crans-Montana miterleben und ich mit einigen Jugendkameraden in den einfach eingerichteten Militärbaracken in Urnäsch.
1954 übernahm der junge Kaplan Hans Renggli die Führung der Jungwacht Hitzkirch. Als neuer Präses war er es, der den Jungwachtgedanken weiter ausbaute. Von der Überzeugung geleitet, dass der Jungwächtler nicht nur durch Gesang, Spiel und Sport zum Gefühl der Zusammengehörigkeit und zur Pflege der Kameradschaft angeregt werden könne, äusserte er auch die Absicht, den Buben der Jungwachtschar die weitere Heimat zu zeigen. Darum bereitete er noch im gleichen Jahr ein vierzehntägiges Jungwachtlager vor. Die Suche nach einem geeigneten und günstigen Lagerhaus war in dieser Zeit allerdings sehr schwierig.
Das erste Hitzkircher Jungwachtlager in Brigels-Breil (GR)
Ende Juli des Jahres 1954 zogen erstmals Hitzkircher Jungwächtler mit flatternden Fahnen und Wimpeln und begleitet von «Budis» Trommelwirbeln zum Bahnhof nach Richensee. Stolz trugen alle ihre blauen oder grünen Hemden, ihre kurzen Manchesterhosen mit dem unverwechselbaren Jungwacht-Gurt. Sie freuten sich auf ihr erstes Ferienlager im Bündnerland. Mit den SBB und mit der Rhätischen Bahn reiste die bunte Schar via Chur nach Tavanasa, der Bahnstation Station von Breil/Brigels. Für mich und für alle andern war die Postautofahrt auf schmaler und steiler Strasse ins Ferienziel auf 1289 m ü.M. ein besonderes Erlebnis. Wir staunten über das hübsche Bündner Bergdorf mit seinen dunkelbraunen, verwitterten Häusern und Stadeln und mit der heimischen St. Maria-Kirche sowie seiner einmaligen Lage auf dem auf weit ausladenden Sonnen-Plateau am Fusse der Brigelser Hörner. Vom ersten Moment an erfreute uns der romanische und sympathische Gruss «Bien di».
Kantonnement im Steinpalast eines ehemaligen Brigelser Söldners
Am Lagerort bezogen wir in einem im französischen Baustil gehaltenen Steinpalast (heute die renovierte «Casa Mirella») unser Kantonnement. Der Erbauer des Hauses hiess de Latour und hatte im 17. Jahrhundert als Oberst in einem schweizerischen Söldnerheer unter Ludwig XVI. gedient. Das Bauwerk mit einem grossen Saal und einst sehr schönen Wohnräumen machte mit seinem hässlichen Blechdach einen etwas verlotterten Eindruck. Doch der Estrichraum war ein Eldorado für unsere Entdeckungen! Und im Vergleich zu den gleichzeitig stattfindenden Ferienlagern in den Flab-Militärbaracken mit Hunderten von Ferienlagerleuten bot unser Lagerhaus den gewaltigen Vorteil, dass wir eine für uns abgeschlossene Gemeinschaft bilden konnten. Trotz allem: «Es esch ned zom Säge!» So war das neue Heim unter fachkundiger Leitung von «Gömper und Co.» rasch in eine heimelige Wohnstätte verwandelt, in der es sich auf Militärstrohsäcken gut plegern und schlafen liess. Doch welch ungewohnte Überraschung: Als erste Arbeit mussten wir in einer nahen Scheune die Schlafsäcke mit Stroh selber stopfen! Vom militärischen Vorunterricht, heute «Jugend und Sport», erhielten wir Wolldecken, diverses Arbeits- und Küchenmaterial sowie Kakaopulver, Militärbisquits und anderes mehr. Major Galliker aus Gerliswil unterzog unser Lager einer gründlichen Prüfung: Er kontrollierte die Einhaltung der Normen des militärischen Vorunterrichts, prüfte uns in Karten- und Kompasskunde usw. Das Resultat war m.E. «recht gut».
Währschaftes Essen, anspruchsvolle Ausmärsche und eine unvergessliche Bundesfeier
In einer geräumigen Küche mit sehr gutem Zweilochherd und fliessendem Wasser waltete die Küchenmannschaft unter der Führung des Sekundarlehrerehepaars Bussmann, das von Bernadette und Sophie Meyer unterstützt wurde. Dank dem unermesslichen Nachschub aus dem Hitzkirchertal war es für sie ein Leichtes, die vielen hungrigen Mäuler mit einer kräftigen und abwechslungsreichen Kost zu stopfen. Ein Birchermüesli mit selbst gesammelten Heidelbeeren brachte Abwechslung in den Menüplan. Hunger gabs da droben in dieser würzigen Alpenluft, vermengt mit Kuh- und unverwechselbarem Ziegenduft beim täglichen Durchmarsch des Geissenpeters. Sport und Spiel, Ausmärsche mit Kletterübungen, Kartenlesen, Kornpasskunde, Orientierungsläufe, Bubentag, Gruppenstunden sorgten für abwechslungsreiche Tage. Die Lagerolympiade war der Höhepunkt. Als Wanderpreis winkte ein «Ehrenwimpel» am romantischen Lagerfeuer.
Die Ausmärsche führten auf die Quaderalp, hier sind die Maiensässe von Brigels, und auf den Kulm (3643 m ü.M.). Ein anderer ins Frisaltal, Richtung Kistenpass und ein vierter zu den Ruinen von Grottenstein bei Waltensburg. Als Proviant dienten jeweils ein Landjäger, Brot, Obst und Tee im Rucksack.
Ein Erlebnis besonderer Art wurde einem Teil der Jungwachtführer zuteil: Mit dem Bergführer Caduff durften sie mithelfen, das Holz für das 1.-August-Feuer auf den Gipfel des Piz Tumbif (3080 m) zu transportieren. Unvergesslich ist die 1.-August-Feier, zu der wir offiziell eingeladen wurden. Unter den Klängen der Brigelser Musikgesellschaft marschierten wir auf einen Höhenkamm östlich des Dorfes. Böller krachten, Höhenfeuer leuchteten, und auf dem Piz Tumbif flammten riesige Feuerzungen in den klaren Nachthimmel. Umstrahlt vom Bundesfeuer hielt ein Behördenmitglied in Deutsch und Romanisch eine gehaltvolle Ansprache. Danach gabs zum Dessert noch gebrannte Creme und ein Stück Kuchen.
Ein Jahr später ging die Ehre der Augustredners dann an unseren geschätzten Lagerpapi, Seppi Bussmann. Wir umrahmten die Feier mit fröhlichen Jungwachtliedern. Unvergesslich bleibt für mich auch das Motto des genannten Lagerpapis. Es lautete: «Vor dem Hauptverlesen bzw. Fahnenaufzug muss man zuerst Papier auflesen!»
Erinnerungen, Erlebnisse und Ereignisse, die man kaum einmal vergessen wird
Nach 14 Tagen mussten wir vom schönen Brigels/Breil, seiner sympathischen Bevölkerung, aber auch von den grossen Ziegen- und Kuhherden Abschied nehmen. Am Schluss gings ans Packen und Putzen, an die Entleerung der Schlafsäcke und ans Rollen der Wolldecken. Eine Extrafahrt des Postautos brachte uns nach Tavanasa, von wo aus wir die Heimfahrt via Disentis, den Oberalppass, Andermatt und Göschenen antraten.
Glücklich, dass wir schöne, unfallfreie Tage im sonnigen Bünden hatten verleben dürfen, erreichten wir abends unser heimisches Tal und zogen mit entrolltem Banner singend und trommelnd ins Dorf ein. Zum Abschied gabs noch ein lautstarkes, gemeinsames «Ziggi-Zaggi-hoi-hoi…»
Weitere Lager folgten
Die Lagerleitung setzte sich sofort für die Reservierung des Lagerhauses für das kommende Jahr ein, sodass sich alle auf ein tolles Wiedersehen im Jahr 1955 freuen durften. Obschon es schon damals noch bessere Unterkünfte gegeben hätte als das «Palais» Latour in Brigels… Doch solche folgten in den Jahren danach:
Wer erinnert sich noch an die Tage in Zignau (Riggenberg) bei Truns, wo unsere Kammermusik an einem öffentlichen Abend frohe Stunden bereitete und die Bevölkerung zum Lachen brachte. Wer erinnert sich noch an die Alp Nadels und die Kletterpartien dem Rhein entlang? – Herrlich auch die Zeit, die wir zweimal auf den Höhen von Ladir verbringen durften. Landschaftlich einzigartig war das Lager in Saas-Grund-Tamatten mit den genussreichen Wanderungen bis an den Fuss des Biderggletschers oder (zwar nur für wenige) die Besteigung des Allalinhornes, eines «Viertausenders»! Jugenderlebnisse als Jungwächtler und später als Führer im blauen Hemd.
Ferienlager, auch heute noch Wochen mit unschätzbarem Wert
Die Ferienlager, hauptverantwortlich getragen durch die Pfarrei und Scharleitung, bot uns Unschätzbares: Wir lernten weite Gebiete des schönen Schweizerlandes kennen. Luft- und Kostveränderungen taten uns gut. Wir mussten uns einer Gesamtordnung fügen und uns dabei gegenseitig dulden und ertragen. Wir hatten uns mit der vorgefundenen einfachen Einrichtung abzufinden und die vielleicht etwas «fremde» Verpflegung zu schätzen.
Alle, die wie ich das Glück hatten, in ein Jungwachtlager auszurücken, werden nie vergessen, wie schön es war. Wenn man sich trifft, heisst es bald einmal: «Weisch no…» So auf jeden Fall immer dann, wenn sich der kleine Kreis der ehemaligen Jungwachtführer zusammenfindet: Jim, Schumi und Bäri & Co. organisieren dafür turnusgemäss fröhliche kulturelle und kunsthistorische Freundschaftsreisen sowie abwechslungsreiche Tagestreffen.
An dieser Stelle danke ich – bestimmt im Namen vieler– auch den heutigen Scharleitungen für die Weiterführung des Jungwachtgedankens und für den Fortbestand der romantischen Zeltlager.
Im Jahr 2016 kann die Jungwacht Hitzkirch das 80-jährige Bestehen feiern. 1936 hat Pfarrhelfer Wehrli die Jungwachtschar mit Unterstützung von Seminaristen gegründet. Erster Scharführer war Fritz Steiner und anschliessend der einheimische Lehrer Bernhard Koch, beide Seminaristen. Glückauf! Macht weiter unter dem Wahlspruch: «Treu Jungwacht».
*Walter Schmid (geboren 1943), Bürger von Hitzkirch, langjähriger Gemeindeschreiber von Hildisrieden wo er mit seiner Familie seit 1971 lebt. Er war von 2003 bis zur Gemeindefusion 2009 Gemeindeschreiber von Mosen (letzter Schreiber).
