*Hans Peter Ineichen, Luzern, «Seetaler Brattig» 2026
Am 28. Januar 1895, einem Montag, gründeten 28 Kaufleute, Gewerbetreibende, acht davon waren Milchproduzenten, aus dem ganzen Seetal und Raum Luzern eine Genossenschaft mit dem Zweck, sterilisierte Milch in Dosen herzustellen und zu exportieren. Was trieb sie zu dieser Firmengründung?
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herrschte Aufbruchstimmung. Bahnbrechende Erfindungen begannen die Wohn- und Arbeitswelten zu verändern: Erfindung der Glühlampe, erste Radioübertragungen, die ersten Telefone tauchten auf, 1893 erfand Rudolf Diesel den «Dieselmotor», Fabriken entstanden. 1883 wurde die Seethalbahn eröffnet. Die Strassen waren jedoch noch nicht asphaltiert, die ersten Lastwagen fuhren erst nach 1910.
Ein Zeitungsartikel löst viel aus
Im Sommer 1894 las Jean Tschupp-Ineichen, Fabrikant und Dosenhersteller in Ballwil, einen Artikel in der Schweizerischen Handelszeitung, wonach Schifffahrtslinien einen steigenden Bedarf an sterilisierter Dosenmilch vermeldeten. Dampfschiffe waren damals wochenlang unterwegs von Europa nach Afrika und Asien. Er erkannte, dass sich auch Milch in seine Dosen abfüllen liesse. Er setzte sich mit Theophil Schmidlin, dem umtriebigen Direktor der Seethal-Bahn, in Verbindung. Dieser war von der Idee sofort begeistert, er versprach sich mehr Transportvolumen. Zusammen kontaktierten sie Josef Ottiger, Niffel, Präsident der 1877 gegründeten Käsereigenossenschaft. Man wurde sich rasch einig, eine entsprechende Firma zu gründen.
Über die Herstellung sterilisierter Milch in Dosen war kein «Know-how» vorhanden, doch die drei Herren liessen sich nicht beirren und beschafften sich das nötige Fachwissen, den Produktionsstandort, das Personal für die Produktion und den Verkauf. Auch mit den Hochdorfer Milchproduzenten wurde man handelseinig. Das Unternehmen benannten sie «1. Central-schweizerische Natur-Milch-Exportgesellschaft ». Niemand hatte auf einen neuen Anbieter für «sterilisierte Milch» aus Hochdorf gewartet, aber schon ab Sommer 1895 erfolgten erste Lieferungen an Norddeutsche Reedereien, und ab 1896 bearbeitete eine Agentur in London den britischen Markt. Lieferungen nach Ägypten folgten. Daneben
wurde Milch zu Käse und Butter verarbeitet. Auch eine Schweinemast gehörte zum Betrieb.
Um den rasch steigenden Kapitalbedarf zu decken, erfolgte im August 1897 die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, 1899 die Namensänderung in «Schweizerische Milch-Gesellschaft AG» (SMG). Eine Obligationen-Anleihe wurde aufgelegt.
Präsident Schmidlin gewann 1899 den weltweit bekannten Milchwissenschafter Dr. Niklaus Gerber für den Verwaltungsrat. Gerber beteiligte sich am Kapital und vermittelte in den Folgejahren die Kondensmilch- und Walzentrocknungs-Technologie.
1905 erfolgte die Gründung der Schokoladefabrik «Lucerna» in Hochdorf. Die Nähe des bestehenden industriellen Milchverarbeiters dürfte für die Standortwahl den Ausschlag gegeben haben. Die «Lucerna » engagierte sich mit 200 000 Franken am Kapital und am Ausbau und beanspruchte zwei Sitze im Verwaltungsrat. Der Konkurs der «Lucerna» 1911 war für die «Südi» ein empfindlicher Rückschlag.
1908: Beginn der Produktion eines Kindermehls, Marke «Bébé».
1912: Bau der ersten Sprühtrocknungsanlage in der Schweiz, System «Trufood».
1913: Der seit 1900 tätige Gesch.ftsführer Georges Barrelet gewinnt die Britische Admiralität als Kunde.
Die Milchkäuferin
Der Milchkauf war seit 1895 ein stetiges wirtschaftliches und politisches Gerangel. Behörden und Verbände mischten sich ein und immer wieder auch die mächtige Käselobby. Oberstes Ziel war stets die Frischmilchversorgung in den Konsumzentren. Schliesslich setzte sich die Käse-Lobby durch. Die langfristige Haltbarmachung der Milch (Kondensmilch, Trockenmilch) – vorab für die Industrie und den Export – musste sich deshalb oft unterordnen, war dann aber ein wichtiger Verarbeitungspartner in Zeiten von Milchüberschüssen. Die SMG Hochdorf setzte sich während all den Jahrzehnten stets für ausgleichende Lösungen ein, was nicht immer honoriert wurde.
Viele Milchproduzenten, unter anderem aus Hochdorf, Baldegg, Nunwil, Gosperdingen, Kleinwangen, Lieli, Illau, Ober- und Unterebersol oder Ballwil, lieferten ihre Milch während rund 100 Jahren an die SMG Hochdorf. Die Beziehungen zu den einzelnen Produzenten-Familien dauerte oft über mehrere Generationen und wurden sorgfältig gepflegt. Dazu gehörte während Jahrzehnten auch eine Qualitätsprämie.
Dominierten zu Beginn Ross und Wagen die Milchtransporte in Kannen, setzten sich nach den 1910er-Jahren die ersten Lastwagen für die zweimal tägliche Milchabholung durch. Es dauerte dann bis in die 1980er-Jahre, bis Hofkühlanlagen die Kannen ersetzten und die Milchabholung nur noch alle zwei Tage nötig machte.
Milch ist ein äusserst anspruchsvolles Produkt und verlangt von den Bauern und von den Verarbeitern grosse Kenntnisse und einen sorgfältigen Umgang auf allen Verarbeitungsstufen. Der Milchpreis ist immer auch ein politischer Preis, der aber die enormen Kosten der Produzenten, Verarbeiter und den Handel decken muss.
Abhängig vom Welthandel
Im Ersten Weltkrieg (1914–1918) wurde die SMG zu einer bedeutenden Kondensmilch-Exporteurin. Die damit verbundene finanzielle Erholung ermöglichte dringend notwendige Neubauten (1917–1919) und die Errichtung eines Wohlfahrtsfonds für die Mitarbeitenden.
In den 1920er-Jahren verlor die nun zum grössten Teil exportorientierte Firma sukzessive den Preiskampf auf den asiatischen und afrikanischen Märkten an preisgünstigere Konkurrenten aus den Niederlanden und den USA.
Um 1930 diskutierte der Verwaltungsrat sogar über die Schliessung der Firma. Dank Beziehungen konnte ein Investor gewonnen werden, der sich mit Kapital und vor allem neuen Produkt-Ideen verpflichtete. Der aus den USA zurückgekehrte Nationalökonom Dr. Moritz Lustenberger erkannte die neuen Möglichkeiten. Ihm wurde die Geschäftsleitung anvertraut. Mit einer Neuausrichtung auf den Schweizer Markt und neuen Produkten (Milchbackmittel für Bäckereien, Margarine- und Speisefette, Heliomalt) gelang ihm und seinem Team eine schrittweise Erholung des Unternehmens.
Nach 1950 (die ersten Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges waren überstanden) begann eine lang ersehnte Erholung. Anlagen wurden erneuert und erweitert, Neubauten erstellt, neue Produkte eingeführt. Anfang der 1950er-Jahre gelang beispielsweise die Einführung der ersten muttermilch-identischen Säuglingsnahrung, das Backmittel-Sortiment wurde stark ausgebaut, Heliomalt wurde national vertrieben. Zur Bekanntheit der SMG trugen auch originelle Ideen wie beispielsweise ein Adventskalender bei und TV-Werbung in allen Landesteilen. Die Geschäftsführung wurde in den 1960er-Jahren Maurice Lustenberger jr. und Dr. Heinz W. Stöcklin anvertraut, unterstützt durch Hanspeter Baumann und Lothar K. Jberg.
Kurz vor dem Jahr 2000 erfolgte ein weiterer Führungswechsel in der Geschäftsleitung und im Verwaltungsrat. Mit einem erneuten Namenswechsel, Lohnaufträgen, Expansion ins Ausland, Firmenkäufen, Ausbau der Produktionsanlagen und weiteren Massnahmen erhofften sich die Verantwortlichen ein rasches Wachstum im In- und Ausland. Gelang mit dem Kauf des Milchwerkes Sulgen ein langfristiger Erfolg, überschätzte man sich mit teilweise nicht genügend durchdachten Expansionsplänen. Der Kapitalbedarf wurde enorm. Die Schulden konnten nicht mehr gestemmt werden. Eine erneute Sanierung unter neuem Management drängte sich ab 2022 auf. Ein Investor fand sich 2024. Das gesamte Geschäft sowie das Werk Sulgen konnten in eine neue Zukunft gerettet werden. Das Stammwerk Hochdorf musste jedoch leider aufgegeben werden, nachdem das Terrain bereits 2021 an die Gemeinde Hochdorf verkauft worden war. – Sic transit gloria mundi (so vergeht die Herrlichkeit der Welt).
Literatur- und Quellenangaben
- Firmenarchiv, inkl. Presseartikel.
- Heimatkunde des Kantons Luzern, Amt Hochdorf, Gottfried Boesch, 1946
- Dr. Moritz Lustenberger, Seetaler Chronik 1959.
*Hans Peter Ineichen (geboren 1939), aufgewachsen in Hochdorf, war Archivar der HOCHDORF Holding AG. Er lebt in Luzern.
