Das alte Schulhäuschen von Sulz. | Bild: Archiv Meinrad Christen

*Meinrad Christen, Hochdorf

Es steht seit über 40 Jahren nicht mehr, war ein unscheinbares Häuschen und steckte doch voller Geschichte und Geschichten. Meinrad Christen, der selbst in Sulz zur Schule ging, hat sie für die Brattig 2024 geborgen und konserviert.

Vor vielen Jahren waren wir unterwegs durch die Mojave-Wüste im Süden Kaliforniens. Im kleinen Geisterstädtchen Calico marschierten vorbei an Saloon, Polizeiwache mit Gefängniszelle und weiteren historischen Gebäuden, bis wir plötzlich vor einem kleinen Schulhäuschen standen. Es war eigentlich eher nur ein Zimmer mit einem Dach. Mir wurde schlagartig bewusst: In solchen ungefähr war ich doch sechs Jahre lang zur Schule gegangen.

Vor kurzem dann waren wir unterwegs in Kanada. Mein Cousin, ein Farmer in Manitoba, wies uns auf die Windfarm in St. Léon hin. Noch mehr als dieser Turbinenpark fesselte mich dann etwas anderes: Ein kleines Schulhäuschen, idyllisch gelegen an einem kleinen See, wiederum eigentlich auch nur ein Zimmer mit einem Dach.

Diese beiden Häuschen stehen noch, haben sogar einen Ehrenplatz. Dasjenige von Sulz jedoch gibt es schon lange nicht mehr. Deshalb will ich es nochmals auferstehen lassen – zumindest in meinen Erinnerungen und mit Hilfe von Einträgen aus den Sulzer Schulchroniken.

Auch in Kanada sind solche Schulhäuschen selten geworden. Die meisten Landstriche in der Prärie wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besiedelt. Schulhäuser wurden je nach Besiedelungsdichte etwa alle drei Meilen gebaut, damit der Schulweg für die Kinder zu bewältigen war. Alle sahen genau gleich aus, aus dem einfachen Grund: Das Baumaterial wurde im Auftrag des Staates in Grosssägereien fertig zusammengestellt und als Paket mit beigelegtem Bauplan in die Prärie geliefert. Hier musste es von der Bevölkerung nur noch aufgebaut werden. Oft dienten diese Mini-Gebäude sonntags auch als Kirche. 1970 wurde per Gesetz geregelt, dass jede Schule aus 12 Klassen mit je einer Lehrperson zu bestehen habe. Das war das Ende dieser Ein-Raum-Schulhäuschen, und ganze Flotten dieser typischen Schulbussen mussten beschafft werden.

Eine Lebensstelle im Dorf

Bei uns waren die Schulhäuschen individueller, und im Gegensatz zu Sulz war oft noch eine Wohnung für die Lehrersfamilie eingebaut. Für die meisten Lehrpersonen wurde die Anstellung zu einer halben oder sogar ganzen Lebensstelle. So unterrichtete in Sulz Franz Meyer 40 Jahre (von 1922 bis 1962). Sein Vorgänger Alois Lustenberger kam täglich zu Fuss von Müswangen her und brachte es auf 23 Jahre (1899 bis 1922). Franz Bregenzer wirkte von 1962 bis 1967 als letzter Lehrer in diesem Häuschen, dann noch bis zu seinem Tod 1978 im neuen Schulhaus. Er starb schon mit 37 Jahren. Das Ibenmoos hatte ein ähnliches Schulhaus, allerdings mit einer Einzimmerwohnung über der Schulstube.

Das Führen einer Schulchronik war Pflicht. Gleich auf der ersten Seite des ältesten Sulzer Exemplars ist in deutscher Kurrent-Schrift zu lesen:

Winterschule 1899/1900: Da die Schule Sulz zu den kleineren im Kanton gehörte, wurde vom löblichen Gemeinderat von hier an den hohen Regierungsrat das Gesuch gestellt, die hohe Behörde möchte die Kinder der Anstalt Klotensberg wieder Sulz zuteilen. Genannte Anstalt gehörte früher zum Schulkreise Sulz, wurde dann aber vor zirka zehn Jahren aus verschiedenen Ursachen dem Schulkreise Lieli zugeteilt, obwohl der Schulweg dorthin viel weiter ist. Der hohe Regierungsrat würdigte das Gesuch der Gemeindebehörde von Sulz und teilte die Anstalt Klotensberg dem Schulkreise Sulz zu.

16. Oktober 1899: Heute nimmt die Schule ihren Anfang. Diese neue Schule zählt nun in sieben Klassen 36 Schüler. Die Kinder sind punkto Anlagen und Vorbildung sehr verschieden. Es braucht jedenfalls viel Fleiss und Geduld von Seiten des Lehrers, bis diese Schule den andern Schulen des Inspektoratsbezirks Hitzkirch ebenbürtig ist. Doch wollen wir hoffen, es werde nach und nach alles ins richtige Geleise kommen.

Wir sind umso mehr zu dieser Hoffnung berechtigt, da der löbliche Gemeinderat von Sulz, insbesonders die Herren Gemeindeammann Josef Abt und Präsident und zugleich Schulpfleger P. Muff das Schulhäuschen und besonders auch die Bestuhlung einer gründlichen Renovation unterwerfen lassen. So wird gegenwärtig die westliche und nördliche Seite verrandet. Das Klopfen an den Wänden stört zwar etwas, aber, aufrichtig gestanden, der Lehrer hört dieses «Gepolter» gar nicht so ungern.

Nachdem bis dahin nur eine sogenannte Winterschule bestand, beginnt am 2. Mai 1900 erstmals das Sommersemester, auch Sulz hat nun also ab jetzt eine Jahresschule. Explizit wird dann jeweils nach den langen Herbstferien der Beginn des Wintersemesters erwähnt.

Die etwas eigenartige Schule

20. Oktober 1902: Die Ferien sind vorüber; die Schule wird wieder fortgesetzt. Das Schullokal ist während der Ferienzeit fertig gestellt worden. Wir haben jetzt ein schönes, hohes, helles u. gesundes Schulzimmer, welches gut gelüftet werden kann und allen Anforderungen genügt. Namens der lieben Schuljugend spreche ich hiermit der opferwilligen Bürgerschaft von Sulz u. ganz besonders dem Titl. Gemeinderat den verbindlichsten Dank aus. Die Herren Gemeinderatspräsident Pankraz Muff, Gemeindeammann Josef Abt u. Verwalter Jakob Bucher haben es verdient, dass sie hier ehrend erwähnt werden.

20. Juli 1901: Nachmittags Bez.-Konferenz in Hohenrain. Nach der vormittägigen Schule mussten drei Mädchen das Schulzimmer reinigen. Da wurde das Anstaltskind M. Verena Rey von seiner nicht gut beleumdeten Mutter vom Schulhause weggelockt und geraubt. 20. Dezember 1901: Das geraubte Mädchen Verena Rey ist von seinen Irrfahrten wieder zurück gekehrt u. tritt heute wieder in die Schule ein, nachdem es ein halbes Jahr lang keine Schule mehr besucht hat.

20. August 1908: In die Armenanstalt Klotisberg mussten vier Kinder v. Hitzkirch, namens Schneider, aufgenommen werden. Dieselben traten nun in hiesige Schule ein; drei Knaben davon sind körperlich u. geistig zurück.

Die Anstalt Klotensberg, damals auf Gelfinger Gemeindegebiet, war Heim für Menschen jeden Alters, so auch für Kinder, wurde dann zum Bürgerheim, dann zum Altersheim und ist heute das Seminarzentrum Chlotisberg.

Die Zahl der Lernenden schwankte recht stark. Mit 52 Kindern war Höchststand im Jahre 1921 und das in einem Zimmer mit nur einer Lehrperson. Da beklagte sich der Lehrer doch erstmals, dass nun wirklich für Bänke kein weiterer Platz mehr sei. 12 Jahre später steht dann aber schreibt er:

2. Mai 1933: Die Schülerzahl ist bedenklich auf 23 zurückgegangen. Es rührt auch daher, weil einer Weisung unseres Hochw. Bischofs keine Kinder mehr in der Anstalt Klotensberg aufgenommen werden dürfen. Hochw. Herr Kaplan Stadelmann in Hitzkirch setzt sich dafür ein, dass dieser Verfügung nachgelebt wird. Zu Beginn der Wirksamkeit des Lehrers in Sulz (1922) besuchten 22 Kinder vom Klotensberg die hiesige Schule, während dessen es heute noch 5 sind.

Vieles über die damalige Schule sagt aus, was bei der Verabschiedung von Lehrer Lustenberger in der Chronik steht:

3. April 1922: Der Hochw. Herr Bezirksinspektor bemerkte in seinem Schlussworte, dass in dieser doch eigenartigen Schule viele Kinder seien, denen es an Fleiss u. gutem Willen fehle und die zum Teil, wie es das Verzeichnis aufweise, aus allen Himmelsrichtungen während des Schuljahres eingerückt seien. Er verdanke dem Lehrer seine mühevolle Arbeit bestens; dieser habe seine Pflicht voll u. ganz getan. Hierauf erteilte er das Wort dem anwesenden Herrn Schulpfleger Kronenberg aus Gelfingen. Dieser gedachte der unermüdlichen u. erfolgreichen fünfzigjährigen Tätigkeit als Lehrer u. Erzieher, wovon der Jubilar 22 ½ Jahre der schwierigen Gesamtschule Sulz-Klotisberg gewidmet habe. Er wünschte dem zurücktretenden Lehrer einen sorgenfreien, fröhlichen Lebensabend, überreichte ihm in feinem Etui das Geschenk des hohen Erziehungsrates, nämlich 100 Fr. in Gold.

Als es noch Ernteferien gab

Bezirksinspektoren waren damals vorwiegend Herren aus dem Priesterstand. Einige seien hier erwähnt:

  • Hochw. Herrn Peter Stocker, Kaplan in Hitzkirch, später Direktor in Rathausen
  • Hochw. Herr Estermann, Pfarrhelfer in Hitzkirch
  • Hochw. Herr Josef Widmer, Pfarrer in Schwarzenbach und Chorherr in Münster

Am Ende des Schuljahres nahmen diese Herren eine schriftliche Prüfung ab und benoteten diese, meist auf zwei Kommastellen berechnet. Wohl darum redete unsere Vorgängergeneration meist mit gemischten Gefühlen vom Examen. Im Gegensatz zu uns, wo der letzte Schultag ein Freudentag war, lief dieses meistens ähnlich ab – wie an jenem Märztag 1919:

29. März 1919: Die mündliche Prüfung wurde im Auftrage des Inspektors von Herrn Schulpfleger Grossrat Muff geleitet. Er prüfte in der Sprache und im Rechnen, der Lehrer im Religionsunterrichte und der Herr Inspektor in Geschichte, Geographie und in der Verfassungskunde.

Schulbesuche machten viele Jahre nur die Männer aus den Behörden, erwähnt sei aber noch dies:

8. August 1905: Nachmittags besuchte uns Herr Baron Ludwig Pfyffer von Heydegg, Präsident der Schulpflege unserer Schule.

8. Oktober 1905: Heute verstarb nach kurzer Krankheit Herr Baron Ludwig Pfyffer von Heydegg, vieljähriger Präsident des Schulkreises Gelfingen-Sulz-Lieli. Der Verstorbene beschenkte alljährlich an Weihnachten die armen Kinder Umgegend mit schönen Gaben. Gott möge ihn und seine wohltätige Gemahlin dafür belohnen.

Spontan wurden von der Schulpflege damals auch Ernteferien angeordnet, und je nach Obst- und Kartoffelernte verschob sich halt der Anfang des Wintersemesters.

10. September 1904: Auf Wunsch der titl. Schulpflege wurde mit heute die Schule eingestellt u. fünf Wochen Herbstferien gegeben.

Dies war besonders auch während der Kriegsjahre so. Erwähnt doch der Lehrer am 12. August 1919:

Weil die Bauern in dieser schweren Zeit sehr viel Getreide aller Art ansäen müssen, so fallen auch viele Ähren ab. Das Kilogramm Korn, welches vor der Kriegszeit 15 bis 20 Rappen gegolten hat, gilt jetzt 50 bis 60 Rp. Aber so können die Kinder beim Ährenlesen doch ein paar Batzen verdienen.

Oder folgendes im Jahre 1909:

Vom 22. Juni bis 21. Juli wurden 10 halbe Tage Heuferien gegeben. Die Heuernte war wegen dem regnerischen Sommer eine sehr ungünstige.

Der Schulkreis Gelfingen-Lieli-Sulz wird 1955 durch Regierungsratsbeschluss aufgehoben. Jede Gemeinde bildet nun einen eigenen Schulkreis mit einer eigenen Schulpflege. Ausdrücklich erwähnt wird, dass den Frauen eine angemessene Vertretung einzuräumen sei.

Vom Plumpsklo zur Toilette mit Wasserspülung

Auch zum Schulhäuschen selber steht so einiges in der Chronik:

Mai 1949: Der Lehrer meldet der Gemeinde, dass der Schulzimmerboden dringend verstärkt werden müsse, nicht dass es vorkomme, dass einige bei heftigem Herumgetrampel plötzlich im Keller landen würden.

3. April 1950: Der Lehrer möchte es nicht unterlassen, der Gemeinde für die Renovation des Schulhauses bestens zu danken. Die Abortfrage wurde bestens gelöst. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Einbau der Toilette. Es ist dies die erste in den Schulhäusern unseres Inspektoratskreises, wie dies der Herr Inspektor anlässlich der letzten Konferenz erklärte, die Anschaffung einer solchen besonders würdigte und als kulturellen Fortschritt bezeichnete.

Ein Plumpsko war also zu der Zeit nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Schulhäusern der Umgebung noch üblich. Wir nannten dies «System Plätsch».

Der Ernst des Lebens beginnt

An einem schönen Frühlingstag am 21.April 1958 marschiere ich also zum ersten Mal auf dieses Gebäude zu, das mir gross und mächtig erscheint und anscheinend schon vieles erlebt hat. Vater hatte an meinem Tornister mit Felldeckel im letzten Moment noch zusätzliche Löcher in die Tragriemen stanzen müssen, weil diese viel zu lang waren. Kein Kindergarten, auch kein erster Kennenlerntag oder so was im voraus, so stehen wir vier Mädchen und vier Knaben ohne Eltern auf dem Kiesplatz. Mit uns steigt die Schülerzahl auf 34.

Meist geht es jeweils nach dem Prinzip: «Der Mensch ist ein nachahmendes Geschöpf, und wer der vorderste ist, führt die Herde» die Steintreppe hinauf. Ich fühle mich fast erdrückt, soviel fremde Nähe bin ich nicht gewohnt. Reihen von Holzbänken, militärisch ausgerichtet, mein Platz als kleinster ist ganz vorne rechts, neben Stutz Sepp. Zusammen mit ihm würde ich dann Jahr für Jahr ein bisschen weiter rutschen mit dem Ziel: Im 6. Jahr Bankreihe ganz links, möglichst weit hinten. Anscheinend verstanden wir uns so gut, dass wir dann auch in der Sek in Hitzkirch weiterhin Banknachbarn blieben.

Niemand von uns kann am ersten Schultag auch nur ein paar Buchstaben weder lesen noch schreiben. Aber das geht nun los, Griffelschachtel auf. Ist das ein Gekritzel auf den Schiefertafeln! Gespannt schauen wir auf die Grösseren, die schon mehr oder weniger gekonnt ihre Federhalter zücken, nachdem eines der Sechstklassmädchen die in der Tischplatte eingelassenen Tintengefässe wieder geschickt nachgefüllt hat. Ist eine Feder aber zu Grunde gekratzt, muss man eine neue kaufen. Seufzer, wenn ein Tintenklecks auf einem schneeweissen Blatt landet oder ein weiterer Finger blau wird. Ist man mit einer Arbeit schneller fertig und hat der Lehrer nicht gerade Zeit, so bleibt man schön brav sitzen und wartet einfach, hört zu, was die anderen gerade lernen.

Zeit zum Herumgucken

Vorne riesig gross das Lehrerpult, auf einem kleinen Podest. Daneben ein grosser, grüner Kachelofen. Direkt vor mir eine kippbare Wandtafel auf Rädern, dahinter ein Schrank, und fertig. Auffällig ein Bild von einem Mädchen in rotem Kleidchen, ein Schäfchen auf den Armen, darunter gross die Aufschrift «Liebet die Tiere». Weiter ein Schulwandbild, auch jahrelang an seinem Platz: Der «Rote Pfeil» rast über eine Brücke, dahinter ein Stausee, Druckleitungen und Stromleitungen. Dann noch ein markant gerahmtes Bild von General Guisan. Fragte der Herr Lehrer, wer das denn sei, kam zu seinem Entsetzen immer wieder die Antwort: «Das ist der Thali Vit.» Wieder nichts gelernt. Dabei hatten wohl viele von uns dieses Bild schon stundenlang angeschaut.

Fensterreihe links und hinten: Obstbäume vom Nachbarn Eduard, einem etwas eigenwilligen ledigen Bauern. Es gibt ja die Sendung «Bauer sucht Frau» noch nicht. Darum besorgt ihm das noch etwas eigenwilligere Lisi, seine Schwester, den Haushalt und hilft auch draussen mit. So rutschen sie Herbst für Herbst tagelang auf den Knien unter ihren unzähligen Obstbäumen herum und füllen Korb um Korb und Sack um Sack. Fensterreihe rechts schon spannender. So pünktlich wie unser Stundenplan fahren die Winigers mit einem Fuder Gras herbei, unter das weit ausladende Dach der grossen Scheune, nur ein paar Meter vom Schulhäuschen entfernt. Kobi macht sich meistens gleich daran und spannt nun die beiden Pferde vor das Güllenfass. Auf dem Streifen frisch gemähte Wiese soll ja möglichst schnell wieder neues Gras nachwachsen.

Endlich Pause

Wieder eine neue Welt. Daheim haben die meisten von uns noch ein Plumpsklo. «Pissoir, frei und besetzt» gehören darum zu den ersten Wörtern, die ich lesen kann. Mutter hatte mich gewarnt: «Du darfst nicht abschliessen, wenn du mal musst, sonst kannst du vielleicht nicht mehr raus.» Aber drehen und dann den Kameraden vor der Tür fragen, ob er jetzt wirklich das andere Wort sehe, das reizt. Dann der Spülkasten hoch an der Decke, einmal an der Kette ziehen, und es rauscht lauter als der Wasserfall beim Dünkelbach. Also warten und dann gleich nochmals ziehen.

Nun aber alle raus. Der lauteste und grösste Sechstklässler, sehr oft ist es auch ein Mädchen, je nach Jahrgang und Temperament, teilt die Gruppen ein. Jemand zieht gekonnt mit dem Schuh Striche ins Kies, markiert so die Linien für Völkerball oder die Tore. Wegen fehlenden Pfosten und Latten wird gemeinsam entschieden, ob ein Tor zählt oder nicht. Und oft verschwindet ein zu weit gekickter Ball in der Röhre des kleinen Bächleins, was einen längeren Spielunterbruch bedeutet. Auch Paarlauf wird oft gespielt. Bei diesem, meinem Lieblingsspiel, wäre jeder Schiedsrichter überfordert. Zu unübersichtlich, mit vielen Aktionen gleichzeitig. Wir spielen es auch in Eigenregie. Im Winter schlittelt man auf der Dorfstrasse einfach drauflos, eine Pausenglocke gibt es nicht. Ist die Zeit um, kommt der Herr Lehrer vor die Türe, gibt ein Zeichen, und schnell wird dies von Kind zu Kind weiter gemeldet.

Turnen, das heisst für den Herr Lehrer: Krawatte weg, Ärmel zurück krempeln. Und nun Leibesübungen, Arme schwingen, kreisen, Körper beugen. Vielleicht auch mal Weitsprung in den Sandkasten oder Kletterversuche an den Stangen. Auch immer wieder Stafettenlauf, und da kann es dann schon sein, dass die Grossen über die langsamen Kleinen in ihrer Gruppe schimpfen.

10. Januar 1951: Herr Turninspektor Fleischlin inspiziert die im Frühjahr erstellte Sprunganlage sowie das Klettergerüst. Erstes sollte durch Auffüllen von geeignetem Sand oder Kies gehoben werden. Ebenso sollte vorgebeugt werden, dass bei Regenwetter das Wasser des Spielplatzes nicht in die Anlage fliesst. Die Kletterstangen müssten gestrichen, der Platz durch Balken abgegrenzt werden.

Anlass zum Träumen

Singen habe ich in der Unterstufe gerne, weil es mich so schön zum Träumen animiert. Vor allem die Mädchen der oberen Klassen legen sich ins Zeug, meist geht es los mit «Ich bin ein Schweizerknabe» oder «Am Brunnen vor dem Tore». Mein Lieblingslied aber: «Es waren zwei Königskinder». Da schwimmt der Prinz über einen breiten See, die Prinzessin mit der Kerze am anderen Ufer. Und in meinen Gedanken schwimmt dann mein Onkel Domini vom Oberchlotisberg als Prinz von Heidegg über den Baldeggersee, in tiefster Dunkelheit stramm geradeaus, denn im Laufenberg gegenüber hat Tante Nini ja ihre Kerze angezündet… Aber nun abrupt Szenenwechsel in meinem Kopf, denn da tönt es aus vollen Kehlen schon «Ich hat einen Kameraden» oder «Der Jungknab aus dem Aargau muss in den Krieg». Und den Kanton Aargau kenne ich, denn in einem von unseren Wäldern muss man nur einen Schritt tun und man ist dort. Einen Schritt zurück, und man ist wieder im Luzernischen.

Die Schule ist aus, ich schultere meinen Tornister. Zur Hausaufgabe gehört auch, den von den oft schweissnassen Händen dunkel gewordenen Rahmen der Schiefertafel regelmässig mit Seifenwasser oder, noch besser mit Vif oder Ajax und einer Bürste, zu reinigen.

Der Herr Lehrer…

Der Herr Lehrer kommt täglich zu Fuss von Hitzkirch her den Chaiserspan herauf. Zum Mittagessen geht er dann zu seinem Schwager, dem Ratsherr Muff, von wo seine Frau stammt. Eines Tages kommt also der Herr Lehrer wieder vom Mittagessen her und wird plötzlich sichtlich nervös. Der Schulhausschlüssel fehlt. Des Ratsherren Tochter muss rennen, kommt zurück und meldet, dass der Schlüssel auch dort nicht sei. Wir müssen los mit dem Auftrag, den ganzen Weg Richtung Hof Muff abzusuchen. Ein Sechstklässler flüstert ganz in meiner Nähe: «He Leute, wir tun doch nur so, als ob wir suchen würden, dann haben wir keine Schule.» Ich hoffe, dass das Gesuchte nicht plötzlich vor meinen Füssen liegt. Ich wüsste nicht, was ich dann tun sollte. Loyalität zum Lehrer, den ich doch recht gut mag oder zum grossen Sechstklässler? Die Entscheidung wird mir abgenommen, wir werden zurückbeordert. Da ruft ein Mädchen, nach unten zeigend: «Da ist er!» Tatsächlich, liegt doch der Schlüsselbund in der grossen Umschlagsfalte der Hose unseres Lehrer. Nichts gewesen mit keiner Schule heute Nachmittag.

Der Herr Lehrer war Franz Meyer-Muff (1902–1978). Emma Meyer-Muff (1908–2002) war die Schwester von Ratsherr Muff und führte in Hitzkirch einen Lebensmittelladen direkt bei der Kirche. Sie war für uns alle damals logischerweise die Frau Lehrer. Erwin Muff-Künzli (1901–1977) war von 1937–1967 im Grossen Rat, dem heutigen Kantonsrat. Bei seiner Wahl zum Präsidenten im Jahre 1963 gab es ein grosses Fest im kleinen Sulz, und wir Schulkinder durften vor viel Prominenz auf die Bühne. Einen Teil des Textes kann ich heute noch auswendig.

…und sein Sohn

Eines Tages ist auch der Lehrerssohn Kurt da, weil er in seiner Schule frei hat. Er löst mit Ausdauer und grossem Fleiss Kärtchenrechnungen und andere Aufgaben. Solche, die eigentlich für noch ältere bestimmt wären, wie der Lehrer betont. In der Pause spielt er mit uns Fussball. Auf dem Heimweg sind wir Sulzer uns aber nach kurzer Diskussion einig: Also einfach mal angenommen, wenn unser Vater Lehrer wäre und wir hätten frei, wir kämen sicher nicht in die Schule. Da ahnen wir natürlich nicht, dass es dieser Kurt mit seinem Eifer später einmal noch sehr weit bringen würde. Kurt Meyer war Grossrat von 1979 bis 1991, Regierungsrat von 1995-2005 und Schultheiss in den Jahren 1999 und 2004.

Ein Schulgebet zu Beginn und Ende ist Selbstverständlichkeit. Da wirkt der Herr Lehrer eines Tages sehr nachdenklich und sagt, wir hätten ab nächste Woche eine Stellvertretung, die Frau Moser-Räber aus Altwis, denn er müsse sich einer Operation unterziehen. Ob wir mit einem etwas längeren Gebet einverstanden wären, damit alles gut komme? Wir sind es. Er schlägt vor, den Englischen Gruss zu beten. Ich denke ziemlich entsetzt: «Ich kann doch kein Englisch. Was denkt der Lehrer von mir, wenn er sieht, dass ich nicht mitbete?» Erleichtert stelle ich dann fest, dass es da irgendwie um den Engel geht und nicht um Englisch.

Im Häuschen zieht es

Doch zurück zu unserem Zimmer mit Dach. Gerechterweise muss ich anfügen, dass es noch einen kleinen Estrich gibt. Da holt die Abwartin das Feuerholz, im Winter schon morgens um sechs, damit dann bei Schulbeginn der grosse Kachelofen und die Schulstube auch richtig warm sind. Einmal ist wohl das Holz zu nass oder der Wind bläst zu heftig in den Kamin, bei Schulbeginn ist jedenfalls das ganze Schulhäuschen voller Rauch. Nach tüchtigem Lüften setzen wir uns mit Jacken und Mütze in unsere Bänke. Der Herr Lehrer spritzt Kölnisch Wasser und die Abwartin wird gerufen und feuert ganz nervös von neuem an. Nun einige Beispiele von vielen, welche die Temperatur betreffen.

7. Mai 1902: Es ist in unserem Schulzimmer recht kalt (3-4-Grad C.) und ungemütlich; es schneit wie im Hornung (Februar).

9. Mai 1902: Wir würden gerne einheizen, aber der Kamin musste beim Umbau des Schulstübles abgerissen werden.

21. Mai 1902: Es ist immer noch recht kalt u. unheimlich, bald schneit es u. stürmt wie im Hornung, bald scheint wieder die Sonne.

21. Mai 1952: Kühle Witterung. Um 07.30 beträgt die Temperatur im Schulzimmer +6 Grad.

7. Februar 1953: Arges Schneegestöber mit starken Verwehungen häuften den Schnee streckenweise bis 1.20m an. Strassen und Pfade wurden unpassierbar. Die drei jüngsten Kinder der Familie Bolzern im Neuklotensberg fehlten heute in der Schule.

7. Februar 1956: Eine Kältewelle lagert zur Zeit über dem europäischen Festland. Vor unserem Schulhaus, das sich in windgeschützter Lage befindet, mass man am Freitag morgen -23, am Samstag -21 Grad, um 8 Uhr im Schulzimmer +6 Grad.

Schulreise – nicht immer mit Hurra

Während wir zu «meiner Zeit» doch schon an recht schönen Schulreisen teilnehmen durften, ging es Jahre vorher wohl einfacher, manchmal auch sicher anstrengender und mühsamer zu und her.

25. August 1909: Heute nachmittags machen wir einen Spaziergang nach dem Schloss Horben u. kehrten über Illau, Ibenmoos, Kleinwangen, Lieli heim. Die Kinder erhielten auf dem Schloss Horben Sirup, Käse u. Brot. Sie freuten sich sehr.

29. August 1922: Ein Freudentag! Heute verreiste die Schule per Federwagen u. Brek um den Hallwilersee. Die Herren: Waisenvogt Etterlin, Verwalter Kiener, Theodor Christen, Bannwart Budliger, Joh. Etterlin, Peter Ottiger, Gottlieb Winiger u. Anton Roth waren so opferwillig u. wirkten am vergnüglichen Gelingen des Ausfluges mit. Bester Dank dafür. Wohl noch lange werden diese, in sorgloser Freude verlebten Stündchen allen Teilnehmenden in bester Erinnerung bleiben.
(Breck oder Break: gefederter Pferdewagen, bei dem hinter dem Fahrersitz bzw. der Fahrersitzbank zwei gegenüberliegende Sitzbänke montiert sind. Wird auch Wagonette genannt, die Kutsche der Bauern.)

25. Juli 1952: Wir wandern über Feldwege nach der Burg Oberreinach. Kurzer Halt in der Retschwiler Wirtschaft. Auf der Burg kochen wir ab und freuen uns an der prächtigen Talsicht. Während die Buben auf der Rückkehr die prächtige Schiessanlage an der Aa besichtigen, ziehen die Mädchen ein erfrischendes Fussbad im dortigen Bach vor. Ankunft in Sulz ca. 17.00 Uhr.

Auch im Jahr darauf stand eine Wanderung auf dem Programm: Abmarsch um 7 Uhr nach Oberschongau mit Besichtigung der Kirche. Nach dem Abkochen beim Guggibad ging es via Kirchholz und Schlatt wieder weiter, mit Ankunft um 17 Uhr in Sulz. Wir nehmen an, dass wohl die wenigsten Kinder diese Märsche in bequemen und auch passenden Wanderschuhen antreten konnten,

Die Jahre sind gezählt, aber es geht weiter

Schulchronik-Eintrag:

Auf Ende des Schuljahres 1961/62 sehe ich mich leider gezwungen, als Lehrer an der Gesamtschule Sulz zurückzutreten. Leichte Schwerhörigkeit sowie die Folgen einer im Mai 1961 bestandenen Magenoperation erlauben mir eine einigermassen befriedigende Schulführung nicht mehr. Es ist daher an der Gemeindeversammlung vom 3. Dezember 1961 zu beschliessen, die Primarschule Sulz ausschreiben zu lassen. Ich danke Ihnen bestens für das Vertrauen und Wohlwollen, das Sie mir behördlicherseits während 40 Jahren Schuldienst in Sulz bekundet haben und grüsse sie mit vorzüglicher Hochachtung,
Frz. Meyer, Lehrer

Unser Herr Lehrer wird unter grösster Anerkennung und Würdigung seiner langjährigen Leistung verabschiedet und geht in die wohlverdiente Pension.

Ein junger, schneidiger Mann, Franz Bregenzer, fährt auf seinem Militärmotorrad Condor Puch daher, wodurch er natürlich sofort auch die Sympathie von uns Buben hat. Der Unterricht wird anders, da haben wir plötzlich auch mal Gruppenarbeit, dürfen unsere unbequemen Holzbänke verlassen, manchmal sogar den Estrich als Arbeitsort wählen. Es heisst einfach: «Auf keinen Fall herumtrampeln oder sogar hüpfen, sonst seid ihr eher wieder im Schulzimmer drunten, als euch lieb ist.»

Eines Tages kommt dann ein Reporter von der LNN auf Besuch und schreibt einen Bericht über die Schule und verwendet dabei den Begriff «Knusperhäuschen». Dabei schiesst er eine besondere Foto, die leider nicht mehr in guter Qualität verfügbar ist.

Im Dezember 1963 stimmen die Bürger von Sulz einem Schulhausneubau zu. Uneinig ist man sich aber über den Standort. Vor allem im Unterdorf möchte man das Schulhaus natürlich weiterhin bei sich, aber es kommen noch andere Vorschläge. Die Baukommission nimmt zusammen mit Kantonalschulinspektor Herr Hess und Turninspektor Herr Fleischlin einen Augenschein der fünf in Frage kommenden Bauplätze vor und empfiehlt den Bauplatz der Erbengemeinschaft Etterlin-Keller, an schöner, ruhiger Lage hoch über dem Dorf. Nach einstimmigem Beschluss der Gemeindeversammlung werden 2000 Quadratmeter Land zum Quadratmeterpreis von 5 Franken gekauft.

Weiterer Schulchronik-Eintrag:

13. Juli 1964: Der Inspektor freut sich über den aufgeschlossenen Sinn der Bürger von Sulz. Er wünscht der Gemeinde den Segen Gottes zu ihrem grossen Vorhaben.
Professor Emil Achermann, Inspektor.

Somit waren die Stunden des Häuschens gezählt. Nur kurz stand es noch einmal am Sonntag, 16. April 1967, im Mittelpunkt. Es wurde sogar noch mit einer Fahne geschmückt. Dann machte sich nach ein paar Reden ein langer Zug auf den Weg zum neuen Schulhaus hinauf. Einige Jahre diente es noch als Lager beim Papiersammeln, wenn der Preis für dieses wieder mal im Keller lag und ein sofortiger Verkauf sich nicht lohnte.

Am 28. Dezember 1978 verkaufte die Gemeinde das gesamte Areal von 319 Quadratmetern an die Geschwister Winiger. Das Häuschen musste einem Doppeleinfamilienhaus weichen. Genau da an der Gelfingerstrasse 17, wo also während Jahrzehnten Schülerinnen und Schüler in ihren Holzbänken sassen und unermüdliche Lehrer sich um diese bemühten, wohnt jetzt der Eidgenössische Kranzschwinger Werner Winiger mit seiner Familie.

Die Gesamtschule

In der Schweiz wird der Begriff Gesamtschule für die Einklassenschule verwendet, in welcher auf Grund der geografischen Abgeschiedenheit und kleiner Kinderzahl alle der 1. bis 6. oder früher sogar 7. Klasse in einer Lerngemeinschaft meist nur von einer Lehrperson unterrichtet werden. So ist es auch einem kleinen Dorf möglich, selbständig eine Schule zu führen. Im Prinzip war und ist es nichts anderes als das momentan so propagierte jahrgangsübergreifende Lernen.

Im Seetal mit seinen mehrheitlich kleinen Gemeinden gab es noch bis in die 80ziger Jahre mehrere solche Schulen. Für die Qualität der Sulzer Gesamtschule spricht nur schon die Anzahl der Kantonsräte, welche aus ihr hervor gegangen sind. Eine Zeit lang waren es sogar zwei gleichzeitig (Muff und Furrer). Das hohe Niveau wird schon im weit zurück liegenden Chronik-Eintrag vom 27. März 1901 bestätigt, sagte doch der Bezirksinspektor wörtlich, nachdem er in allen Fächern ziemlich eingehend geprüft hatte: «Es befinden sich in jeder Klasse Schüler, welche mit den besten Schülern der besten Schule konkurrieren könnten.»

In Sulz und Lieli ging die Ära der Gesamtschule nach altem Verständnis 1980 zu Ende. Ab Schuljahr 1980/81 besuchten die Kinder der 1. bis 3. Klasse von beiden Gemeinden den Unterricht in Lieli, diejenigen der 4. Bis 6. Klasse von beiden Gemeinden in Sulz. Damit begann auch hier in Sulz, wie in Kanada schon vor langem, die Zeit der Schulbusse.

Nun suche ich sicher nicht danach, bin aber doch gespannt, ob ich nicht doch plötzlich wieder irgendwo auf der Welt ganz überrascht vor so einem Häuschen stehe, welches eben nicht mehr ist als ein Zimmer mit Dach. Von aussen unscheinbar, innen aber voller Geschichten.

Meinrad Christen (geboren 1951) ist in Sulz geboren und aufgewachsen und hat dort auch die Primarschule besucht. Anschliessend hat er die Sekundarschule und das Lehrerseminar in Hitzkirch absolviert und auf Primarschulstufe an allen Klassen unterrichtet. Nach seiner Ausbildung als schulischer Heilpädagoge war er am HPZ-Hohenrain auf der Abteilung für Hör- und Sprachbehinderte tätig.

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