Das Treppenhaus in der Kommende Hitzkirch, wo bis 2007 ein Lehrerinnen- und Lehrerseminar bestand; gezeichnet von Ludwig Suter. | © 2005 Seetaler Brattig

Peter Huwyler, Rothenburg

Der erste Schritt in die Fremde

Frühlingsduft lag über dem Seetal. Gespannt und voller Erwartungen, aber auch etwas bange, entstieg ich nach fünfstündiger Bahnfahrt dem «Seetaler». Hitzkirch war für mich bis zu diesem Zeitpunkt eine Unbekannte auf der Landkarte. Die Wintersaison in Davos neigte sich im März allmählich dem Ende zu und braungebrannt vom langen Winter trat ich die Reise ins Unterland an. Bündner durch und durch, aber mit Luzerner Wurzeln: Es galt, die Weichen fürs Berufsleben zu stellen.

Den Lehrerberuf erlernte man im Graubündischen normalerweise in Chur. Doch als Bürger von Müswangen – mein Urgrossvater wanderte im 19. Jahrhundert mit seiner Familie von dort nach Baar aus– war ich berechtigt, das Seminar in Hitzkirch zu besuchen. Mein Vater, der auf seinen beruflichen Wanderjahren in Davos hängen blieb, gründete im Bündner Kurort seine Familie und fand es richtig, mich für die Ausbildung zum Primarlehrer wieder an den Ursprung der Sippe zu schicken.

Zuerst folgte die Aufnahmeprüfung. Insgeheim hoffte ich an dieser ersten Hürde zu straucheln, denn mein schneegewohntes Berglerherz fand mit der lieblichen Seetaler Landschaft und dem verträumten Dorf Hitzkirch vorläufig keinen Konsens. Ob ich wollte oder nicht, nach Ostern – es war im Jahre 1954 – begann für mich die berufliche Karriere im Luzerner Seetal. Dass sie über 40 Jahre dauern würde, hätte wohl der grösste Optimist nicht zu träumen gewagt.

Die goldene Zeit

Das Seminarleben von damals beschreiben die drei Strophen des Hitzkircher Studentenliedes aus dieser Zeit trefflich:

Hügel, Sonne, Wolken, Sterne spiegeln sich im Wasserblau.

Berge grüssen aus der Ferne manchen stolzen Burgenbau.
Wo ein Heer von braven Knappen einst zu Rittern avanciert,
kämpfen heute blaue Kappen, bis der Staat sie patentiert.

Refrain:

Wie Ritter gewappnet ziehn singend im Chor
Hitzkircher Studenten durchs goldene Tor:
Statt Lanze – die Feder, statt Ross – das Katheder,
als Harnisch die Mütze herunter vom Ohr. So winkt man zurück zur Kommende empor.

Wenn die Tagwachglocken dröhnen widerhallts im dunklen Gang.
Über dicken Büchern stöhnen hundert Köpfe stundenlang.
Unterschiedlich den Schlaraffen lernen sie von früh bis spät;
krampfen, büffeln, schanzen, schaffen, bis der Mond am Himmel steht.

Durch die Hallen kündet Singen der Studenten heiter Tun.
S’gilt – beim frohen Becherklingen – vom Studieren auszuruhn.
Wenn die Humpen immer wieder übermütig Runden drehn,
tönen unsere schönen Lieder, bis wir «früh» nach Hause gehen.

Der ganze Schulbetrieb war in der barocken Deutschritterkommende untergebracht: Schlafsäle, Wirtschaftsräume, Schulzimmer, Studiersaal, Refektorium, Turnhalle, Aufenthaltsräume. Das Leben war einfach und streng reglementiert. Direktor Leo Dormann, der Tradition von damals entsprechend ein Geistlicher, wohnte ebenfalls im Haus und amtete gleichzeitig auch als Lehrer, Internatsleiter und Sekretär. Er war seinem Vorbild Don Bosco sehr verbunden und führte die Schule leidenschaftlich, väterlich, liebenswürdig und konsequent.

In der Früh um 5.30 Uhr schrillte die Tagwachglocke. Am Donnerstag durfte bis 6.30 Uhr ausgeschlafen werden und am Sonntag standen wir um 7.00 Uhr auf. Anschliessend folgte das gemeinsame Morgengebet im Studiersaal. Bis alle da waren, stand man stillschweigend hinter dem Pult, meistens mit einer geistigen Lektüre beschäftigt. Dann folgte eine beaufsichtigte Studierzeit. Montag, Mittwoch und Freitag war Schulmesse und am Sonntag besuchte die Studentenschar, ausgerüstet mit dem blauen Käppi, geschlossen das Hochamt.

An Werktagen fand nach den Unterrichts- und Essenszeiten beaufsichtigtes und obligatorisches Studium statt. Auch am Wochenende wurde unter Kontrolle gelernt. Der Tag schloss um 21.00 Uhr mit dem gemeinsamen Nachtgebet, anschliessend herrschte Stillschweigen und um 21.30 Uhr mussten in den Schlafsälen die Lichter gelöscht werden. Zum Glück gab es damals noch keine Sommerzeit, sonst hätte uns tatsächlich die Sonne in den Schlaf begleitet!

Für das leibliche Wohl sorgten Baldegger Schwestern. Der Ausgangsrayon war auf die Umgebung von Hitzkirch beschränkt und im Dorf bestand für die Studenten ein Wirtschaftsverbot. Nach Hause durfte nur zu den offiziellen Schulferien gefahren werden, dreimal im Jahr: an Ostern, im Sommer und an Weihnachten.

Gemeinschaft und Schule

Bedingt durch diese Umstände schweisste sich eine intime Seminargemeinschaft zusammen, die viel Eigendynamik entwickelte und für gute Traditionen Platz schaffte, sei es in kultureller, sportlicher, religiöser, musischer oder geistiger Hinsicht. Je nach Neigung und Interesse schlossen sich die Studierenden zusammen, übernahmen Verantwortung und entwickelten Ideen, die dem Gemeinschaftsleben dienten. Auch in der Bevölkerung verwurzelte sich das Seminar durch die kontinuierliche Präsenz der Studenten. Zudem wohnten im letzten Seminarjahr die Fünftklässler bei Familien, was die Beziehung zur Dorfgemeinschaft intensivierte. So ist es mehr als begreiflich, dass das untere Seetal sein Seminar ins Herz schloss und als einen Teil von sich betrachtete. Auch die Lehrerschaft wohnte damals vorwiegend in Hitzkirch oder in der näheren Umgebung, was den Kontakt mit dem Dorf ebenfalls enger knüpfte.

Bald fand ich mich in der neuen Umgebung zurecht, und die fünf Seminarjahre verflogen im Nu. Ich freute mich über die gebotenen Möglichkeiten in der Schule, bei Sport, Theater, Musik. Der Keim für meine spätere Laufbahn entwickelte sich in den ersten Seminarjahren. Der Turnunterricht begeisterte mich, die abenteuerlichen Erzählungen übers Höllloch weckten geographische Neigungen und die Möglichkeit, bei extravagantem Theaterspiel mitzutun, waren Triebfeder genug, meine spätere Marschrichtung zu bestimmen.

Zurück an den Ursprung

Nach kurzer Tätigkeit als Primarlehrer liess ich mich an der Universität Basel zum Turn- und Sportlehrer ausbilden und in Zürich studierte ich Geographie. Gelegenheit zum Theaterspiel war in Interessengruppen gegeben. So lag es auf der Hand, sich auf eine entsprechende Seminarlehrerstelle zu melden, als in den Sechzigerjahren der rasant ansteigende Lehrermangel nach mehr Ausbildungsplätzen verlangte. Es klappte mit der Anstellung und kaum richtig flügge geworden, kehrte ich wieder an die Stätte meiner ersten Berufsausbildung zurück.

Was ich antraf, entsprach nicht mehr dem Seminar aus meiner Zeit. Direktor Leo Dormann war nach kurzer Krankheit unerwartet gestorben, bevor er konkrete Massnahmen gegen den Lehrermangel in die Wege leiten konnte. Dr. Franz Dilger, der auf dem Berufungsweg von Willisau nach Hitzkirch wechselte und die Nachfolge von Dormann antrat, sah sich mit grossen Problemen konfrontiert. Um der Schulraumnot zu begegnen, wurden rund um die barocke Kommende Baracken erstellt. Sogar der romantische Innenhof war als Ausbildungsstandort nützlich. Parallele Klassenzüge und grössere Klassenbestände sollten mithelfen, den Lehrermangel zu bekämpfen. Neue Lehrkräfte wurden rekrutiert und der Konvent wuchs in kurzer Zeit auf eine Grösse an, die das Seminar bis anhin nicht kannte.

Lehrermangel bestimmt die Zukunft

Die Kommende begann aus allen Nähten zu platzen. Mit Recht fragte sich Franz Dilger: Darf der ganze Betrieb die Schultern eines einzigen Mannes belasten? Soll der Seminardirektor wirklich Mädchen für alles sein? Vom Leiter eines kantonalen Lehrerseminars erwartet man auch geistige Direktiven und dazu braucht es Raum und Zeit.

Während seiner Amtszeit entstanden die neuen Seminargebäude. Unter ihm wurden die ersten Mädchen zur staatlichen Lehrerinnenausbildung zugelassen. Er baute ein Sekretariat auf und stellte Internatsleiter an. Franz Dilger führte die Schule durch die schwierigen und brisanten Sechzigerjahre. Seitens der Regierung spürte er Widerstand gegenüber seinen progressiven Ideen und seiner Amtsführung. Resigniert trat er 1972 vom Posten des Seminardirektors zurück. Ihn sorgte die Zukunft der Schule. Das geht deutlich aus einem Zitat hervor, das er in seiner Eröffnungsrede zu den Einweihungsfeierlichkeiten des Seminarneubaus 1969 hielt: «Hier drängt sich nun sofort die Frage auf: Wird das Seminar Hitzkirch für die nächsten hundert Jahre eine ähnliche Kulturleistung garantieren? Man wird sagen: Am Bau, an den Einrichtungen fehlt es jedenfalls nicht. Wenn der Geist des Hauses der Schönheit des Körpers entspricht, so ist nur das Beste zu erwarten.»

Neuerungen überstürzen sich

Mit dem Rücktritt von Franz Dilger ging auch die Ära der geistlichen Seminardirektoren zu Ende. Die Zeit der weltlichen Schulleiter war geprägt von Erneuerungen, Entwicklungen, Reformen. Eine Idee löste die andere ab, Traditionen verflachten oder entwickelten sich in Richtungen, die den Ursprung nicht mehr erkennen liessen. Der Zeitgeist diktierte und beherrschte das Bildungswesen.

Wellenförmig schwappte der Lehrermangel in Lehrerüberfluss über und bald wieder umgekehrt. Immer mehr Mädchen entschieden sich für den Lehrerinnenberuf. Es gab am Seminar vereinzelt sogar reine Mädchenklassen. Ein Teil der Studentinnen und Studenten lebte auswärts oder zu Hause und kam motorisiert oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule. Freizeitaktivitäten fanden mehr und mehr extern statt. Das Wochenende verbrachten die Seminaristinnen und Seminaristen zu Hause. Das Internat im traditionellen Sinn verlor an Bedeutung und der Individualismus konkurrenzierte das Gemeinschaftsleben.

Nach der Restauration der Deutschritter-Kommende erschütterte eine Schulkrise 1990 die Fundamente des Seminars. Die Regierung wechselte die Schulleitung aus und versuchte durch Supervision der frustrierten Lehrerschaft den Rücken zu stärken. Mit der neuen Schulleitung zeichnete sich auch gleichzeitig am Horizont die gesamtschweizerische Reform der Lehrerbildung ab. Die bewährte seminaristische Bildung begann zu bröckeln und alle Versuche, den traditionellen Weg zu erhalten oder mit dem maturitätsgebundenen zu kombinieren, scheiterten. So wurde auch das Lehrerseminar Hitzkirch vor die Tatsache gestellt, parallel und später anstelle von Seminaristen Gymnasiasten auszubilden. Anschliessend können sich Interessierte an der neu geschaffenen PHZ, der pädagogischen Hochschule in Luzern, zum Primar- oder Sekundarlehrer ausbilden lassen.

Wehmut macht sich breit

Die Tage des Seminars Hitzkirch sind gezählt. Im Jahre 2007 werden die letzten diplomierten Lehrerinnen und Lehrer das Seminar verlassen. Nach diesem Zeitpunkt gibt es nur noch die Mittelschule Seetal, eine Fusion der Kantonsschule Hochdorf und des Lehrerseminars Hitzkirch mit Standort in Baldegg, der ehemaligen Klosterschule. Hitzkirchs heilige Hallen werden sich leeren und für neue Aufgaben vorbereitet: Die nordwest- und zentralschweizerische Polizeiausbildung soll das Erbe der Lehrerbildung antreten. Der Lauf der Zeit kann nicht gestoppt werden. Eine stabile Tradition, die 1868 in Hitzkirch verheissungsvoll begonnen hatte, geht nach rund 140 Jahren zu Ende. Das Neue hat sich zu bewähren und der Erfolg wird sich bestätigen müssen. Eines aber ist sicher und stimmt nachdenklich und wehmütig:

Nie kehrst du wieder goldene Zeit!

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