Müsterchen aus dem bisweilen turbulenten Seetalbahn-Alltag: Martin Bühlmanns Beitrag in der Brattig 1996, illustriert von Ludwig Suter. | © 1996 Seetaler Brattig

*Martin Bühlmann, Hochdorf

Mancherorts wird über die Seetalbahn gelächelt. Sie brauche auch gar viel Zeit für die 46 Kilometer von Luzern nach Lenzburg und umgekehrt. Und sie halte fast bei jedem Haus, beim Trassee-Legen sei wegen jedem Miststock ein Ränkli gemacht worden, vor luuter Geschütteltwerden werde man in kurzer Zeit seekrank. Das stimmt ja ein bisschen, wir geben es sogar zu. Aber im Grunde haben die meisten Bewohner des Tales ihre Bahn, eben den Seetaler, gern. Kunden und Personal kennen sich. Wir grüssen unsere meistens bekannten Kondukteure und den Lokiführer. Mehr als andernorts sind Personal und Kundschaft aufeinander angewiesen. So kommt es im Winter etwa vor, dass gemeinsam ein auf die Schiene geratenes Auto mit Muskelkraft weggeschafft wird, unkompliziert und selbstverständlich. Das Reisen bekommt so etwas Familiäres. Wir haben einige menschliche, alltägliche und nicht alltägliche Geschichtchen zusammengetragen.

Der Bahnhofvorstand von Baldegg

Bahnhofvorstand Zinniker war, wie es sich gehört, ein gewissenhafter Bahnbeamter. Wie erschrak er da eines Nachts, als er nach Mitternacht aus dem Schlaf auffuhr, weil er ganz deutlich das Rollen eines Güterwagens gehört hatte. Der abgestellte Wagen hatte sich freigemacht und fuhr langsam, aber sicher zur Marmori hinunter. Notdürftig gekleidet rannte Zinniker hinaus und griff zum grossen Geissfuss. Damit konnte ein einziger Mann einen Wagen in Bewegung setzen: Der Geissfuss wurde auf die Schiene gestellt und möglichst nahe ans Rad geschoben, hinuntergedrückt, sofort nachgeschoben und wieder hinuntergedrückt, so dass das Tempo mit der Zeit ansehnlich schnell wurde Zinniker stellte den Wagen dorthin, wo er hingehörte, und diesmal zog er die Bremsen an. Pech war, dass Hans Fischer von der Garage das Geräusch auch gehört und den Rücktransport schmunzelnd mitverfolgen konnte, so dass für den nächsten Tag ein freundnachbarliches Hochnehmen programmiert war.

Baldegg-Ost und Baldegg-West

In den siebziger Jahren wurde die grosse Unterführung zwischen Seminar und Dorf gebaut, alle Niveauübergänge wurden aufgehoben. Das hatte für das Dorfleben einschneidende Folgen. Brauchte es früher eine halbe Minute, um von Frau Webers Lädeli zur Käsi oder zum «Löwen» zu kommen, so musste nun, wollte man den Vorschriften entsprechen, ein Umweg von zehn Minuten gemacht werden. Bahnhofvorstand Zinniker schickte deshalb ganz pflichtbewusst von Osten kommende Passagiere auf dem korrekten Weg via Süden nach dem Westen. Der gute Mann jedoch predigte gelegentlich Wasser und trank selber Wein: Zinniker pflegte hinter dem Güterschuppen liebevoll seinen Garten, den Mist kaufte er beim Bauern Imgrüth. Das war bei den vielen Übergängen kein Problem gewesen, aber nun? Der gärtnernde Bähnler hatte die gute Idee: Er legte einen Laden über das Geleise und fuhr mit der Mistbähre vom Occident in den Orient und holte Füderchen um Füderchen. Er war so eifrig bei der Sache, dass er erst durch das noch ferne Pfeifsignal des Seetalers aufgeschreckt wurde. Gerade noch vor der Schnellbremsung konnte er den Laden wegnehmen, die Hände waschen, sich in Uniform und Krawatte stürzen, den Hut aufsetzen und den Zug Richtung Hochdorf ohne Verspätung abfertigen. Wie es sich für Baldegg gehört, wurde diese Tat in der Fasnachtszeitung gebührend verewigt.

Hochdorf ab 05.20 Uhr

Bei bitterer Kälte, Schnee, Nebel und Regen, an lauen Sommertagen treffen gegen Viertel nach fünf Uhr auf dem Bahnhof Hochdorf die Frühaufsteher ein. Noch etwas schläfrig die einen, die auch Morgenmuffel genannt werden, schon richtig wach die andern. Zwei Passe-Partout-Reisende wollen wir etwas genauer ansehen. Zu Fuss oder mit dem altgedienten Dreigangvelo kommt von der Hengstweid her unser Regierungsrat Josef Egli, hellwach und täfu, links und rechts all den andern Frühaufstehern einen guten Tag entbietend und auch schon gesprächsbereit. Von Unterebersol fährt per Töffli der Rast Johnny ein. Wenn die Zeit reicht und der Johnny nicht den Zug verpasst, wechseln die zwei ein paar Worte miteinander, bis der Frühbummler eintrifft. Dann gehen sie auseinander, der Egli Seppi erklimmt die Stufen des unbequemen hintersten Wagens zweiter Klasse, weil der dann wegen der Spitzkehre in Emmenbrücke in Luzern näher beim Regierungsgebäude ist. Der Metzgerbursche Johnny Rast aber begibt sich in die bequeme erste Klasse und schläft dort sofort den Schlaf des Gerechten.

Diese Szene zeigt sich seit dem heurigen 1. Heumonat nur mehr ganz selten, weil jetzt ein anderer auf dem Baudirektorensessel sitzt. Johnny aber geniesst weiterhin die Vorteile des gepolsterten Abteils und erwacht bei der Rückkehr, so sagt man, hin und wieder erst in Baldegg oder Gelfingen.

Fundbüro SBB Eschenbach

Viele Passagiere haben den Kopf nicht bei ihren mitgeführten Besitztümern, sondern ganz anderswo. Die SBB-Fundbüros können davon ein Liedlein singen. Mir erging es 1974 auch so. Es hatte in Luzern geregnet, beim Aussteigen in Eschenbach aber schien die Sonne. Ich liess also den momentan zwecklosen Schirm liegen; aber das merkte ich natürlich erst später. Nach der Rückkehr auf den Bahnhof meldete ich dem diensttuenden Lehrling meinen Verlust. Der zückte ein Formular – ich war offensichtlich nicht der erste Verlierer – und stellte gewissentlich die vorgeschriebenen Fragen. Wann ich wo in welcher Klasse abgefahren sei. Und dann kam für das Fundbüro die wichtige Erhebung: «Sind Sie eher an der Zugspitze, Zugsmitte oder im Zugsende gesessen?» Dem Uneingeweihten sei hier verraten, dass die betreffende Komposition aus drei Personenwagen und der Loki bestand. Die Spitzkehri in Emmenbrücke verlangte ein zeitraubendes und kompliziertes Manöver, an der Lokiführer, Rangierarbeiter, Stellwärter und der Abfertiger Hand anlegten, pfiffen und riefen, während die Passagiere zur Untätigkeit verurteilt waren. Die Loki wurde abgehängt, fuhr vorwärts, bewegte sich nach gestellter Weiche rückwärts, und wurde, nachdem wieder eine Weiche gestellt worden war, am andern Ende des Zuges angekoppelt. Das manchmal sanfte, manchmal heftigere Zusammenprallen der Puffer verriet den Reisenden, dass es bald weitergehen würde.

Nun musste der Lokiführer noch den Führerstand wechseln, und endlich konnte der Weg ins Seetal hinunter unter die Räder genommen werden. Wer in Luzern im vordersten Wagen Platz genommen hatte, sass nun ohne eigenes Dazutun plötzlich zuhinterst. Also, ich musste Auskunft geben über meine Position im Zuge: «Zuerst ganz vorne, dann ganz hinten!» Ich sah den Lehrling einige lange Sekunden denken und erwartete schon die Zusatzfrage: «Haben Sie denn den Platz gewechselt?» Aber es schaltete noch rechtzeitig, und wir lachten uns endlich an. – Der Schirm übrigens ist mir gleichentags unbeschädigt gegen kleines Entgelt ausgehändigt worden.

Die rote Chefmütze von Waldibrücke

Bis vor kurzem gehörte auf den Kopf eines rechten Stations- und Bahnhofbeamten eine Tellermütze. Mit jeder Nudel mehr stiegen Ansehen und Achtung. In grösseren Bahnhöfen bekam der verantwortliche Mann für die Zugsabfertigung sogar noch einen roten Überzug. So wusste jedermann, «wo Gott hockte». Mit besonderem Stolz trug diese Auszeichnung auch der Vorstand des Statiönchens Waldibrücke. Wie kam er wohl zu dieser Ehre? Die hohe Kreisdirektion verpasste ihm eine solche Kopfbedeckung, weil er vom Büro aus die Strasse überqueren musste und so von den Automobilisten besser gesehen werden konnte. Gerne soll er sich nach Abfahrt des Zuges in die Wirtschaft Waldibrüggli begeben haben, in vollem Ornat natürlich. Er habe es genossen, wenn er von der dortigen Kundschaft als hoher Beamter angesehen und entsprechend tituliert wurde.

Waldibrücke–Hochdorf, mit Frischluft

Ein lieber und origineller Mensch war der Wolf Jost von Schwarzenbach. Er arbeitete in der Hochdorfer Haushalti. Ihn zog es nach Arbeitsschluss öppen ins nun bereits bekannte Waldibrüggli. Mit dem letzten Zug kehrte er dann nach Hochdorf zurück. Mit sich und der Welt zufrieden, setzte er sich auf die hinterste, damals noch offene Plattform und genoss die frische Nachtluft. Die Kondukteure kannten ihren Kunden und liessen ihn so reisen, Dienstreglement hin oder her. Wolfs Charakterkopf ist bei den Leidhelgeli in der Brattig 1980 abgebildet.

Berna contra Seetaler

Der Unfall zwischen der Seetalbahn und dem Berna von Baumeister Ferrari gab 1937 viel Gesprächsstoff. Polizist Felder nimmt den Rapport auf. Im Hintergrund ist das ehemalige Restaurant «Schletzi» erkennbar.

Kooperation Bahn–Auto

Der Bregenzer Seppi ist Vorarbeiter in der Viscosi. Er ist ein sensibler Kunde und reagiert ärgerlich auf Verspätungen. In Waldibrücke musste lang, viel zu lang der Kreuzungszug aus Emmenbrücke abgewartet werden. Der Kondukteur kennt seine Pappenheimer und schreitet heute zur Tat: «Komm mit, Seppi!» Sie steigen aus, gehen zum Fussgängerstreifen, der Kondukteur schwenkt seine rote Lampe. Eine junge Frau hält und nimmt auf die Mitteilung, der Bregenzer Seppi habe es sehr pressant, ihn gerne mit. Die Autofahrt ist gut verlaufen. Der Bregenzer Seppi aber sitzt seither ruhig im Zug.

Üsere eine oder ein fremder Fötzel?

Fladis Frau, Silvia Frei-Brunner, fährt häufig mit dem Seetaler und hat deshalb natürlich ein Halbtaxabonnement. Aber heute hat sie es vergessen. Als der Zug in der Mittagshitze die Wirtlenhöchi erklimmt – das sei die steilste Strecke der SBB – kommt Kondukteur Bruno Stutz. Sie klagt ihm ihr Leid. Der Kondukteur ist mit dem halben Billett zufrieden, weil er seine Kundinnen und Kunden ja kennt. Um fünf Uhr gehe sie wieder heim. «Das ist gut so, dann ist einer von uns Zugführer. Sage ihm einen schönen Gruss von mir, und es sei in Ordnung.» Das Pech will’s, dass Silvia erst mit dem späteren Zug um 17.12 reisen kann. Ein «Fremder» kontrolliert die Billette. Das gehe natürlich nicht, sagt er. Silvia muss auf ein ganzes Billett nachzahlen, ebenfalls den Zuschlag von drei Franken. Und der Kondukteur von heute Mittag muss beim Oberzugführer vortraben und fängt einen Rüffel ein. Einer der Kondukteure hat mit Herz, der andere nach Vorschrift gehandelt.

Viehtransport

Anfangs der sechziger Jahre gehen zwei ältere Frauen in Lenzburg in eifrigem Gespräch dem Seetaler entlang, kehren wieder um und scheinen etwas zu suchen. Hilfsbereit und zuvorkommend wie unser Fahrpersonal ist, erkundigt sich der Kondukteur, ob er helfen könne. Sie sind, wie sich später im Gespräch herausstellt, extra aus dem Zürcher Oberland gekommen und wollten eine Fahrt mit der romantischen, alten Bahn machen. Ihre ersten Worte zu Kondukteur Bruno Stutz waren: «Si händ ja nödemol en Viiwaage dra!» – «Stiigid nome i, mir nänd Euch gliich mit!», erwiderte dieser.

Petri Heil!

Der Seetalbahn war auch die Strecke Beinwil-Münster, seit 1932 Beromünster, unterstellt. Wir zählen das Jahr 1956. Leo Heinzer ist junger Stationslehrling in Menziken. Es ist ein schöner Frühlingstag. Pflichtgemäss hat Leo soeben das Einfahrtssignal für den Zug aus Reinach geöffnet, in zwei Minuten sollte er da sein. Aber er kommt und kommt nicht. Endlich, nach achteinhalb Minuten, trifft er ein. Leo fragt den Lokomotivführer, was vorgefallen sei. Die Antwort: «Ich habe am Nachmittag frei und will fischen gehen. Da unten hat es neben dem Gleis einen Miststock mit prächtigen Würmern. Ich habe mir zwei Dutzend davon gefangen. Die Verspätung hole ich bis Münster schon wieder auf.»

Kurz und bündig

Ein Kondukteur teilt mit, es habe vor wenigen Jahren in Gelfingen eine Verspätung von fünf Minuten gegeben, und da musste natürlich ein Rapport geschrieben werden: «In Gelfingen Kalb auf dem Geleise eingefangen und ins Gehege zurückgebracht.»

Die vergessenen Baldegger Seminaristinnen

Theres Meyer, noch nicht lange hier ansässig, steigt in Hochdorf in den Zug. Sie hat sich versichern lassen, dass er wirklich nach Luzern fährt. Aber oha lätz, es geht ab in die falsche Richtung, zurück gegen Lenzburg. Auch die versierten Bahnbenützer sind etwas verdattert. Da kommt der Kondukteur und beruhigt: «Wir haben in Baldegg die Seminaristinnen nicht aufgeladen; wir holen sie noch schnell.»

Der Lappi mit dem Mostfass-Schlüssel

An einem halben Arbeitstag und zwei Abenden ging der KV-Stift der Mosterei Ottiger im Niffel jeweils nach Luzern in die Berufsschule. Der letzte Wagen des Zuges Hochdorf ab 17.11 war jeweils geschlossen und wurde erst nach Bedarf geöffnet. Nun passte aber der funkelnde Messingschlüssel, der für das Zwickeln, das Lüften der Fässer diente, genau auch für die Türen, WCs und Heizung der SBB. Der Stift öffnete also für sich und die lieben Mitreisenden das Abteil. Der Kondukteur begehrte auf und wollte das Corpus delicti an sich nehmen. Er liess es aber dann sein, weil der Stift beteuerte, dass er das teure Werkzeug täglich brauche, kein Geld für ein neues habe und das verbotene Öffnen in Zukunft unterlassen wolle. Der Grimm des Kondukteurs mit den grossen Ohren legte sich, und bei der Heimfahrt half er, der sehr gut französischsprechende, den gleichen Lehrlingen schon wieder fachkundig bei den Hausaufgaben.

Rechts vorfahren

1976: Wie immer fuhr der Lehrling Kurt Felder nach getaner Arbeit von Rothenburg mit dem Velo am Abend heim nach Kleinwangen. Grinsend trat er zu Hause in die Küche, trank ein Glas Süssmost und sagte: «Jetzt habe ich etwas Merkwürdiges erlebt. Zwischen Eschenbach und Ballwil, auf der Höhe des Pfannenstiels, habe ich plötzlich hinter mir ein Geräusch auf dem Gleis gehört. Ich schaute zurück. Da kam zwischen den Schienen auf dem Schotter ein Auto gefahren. Eine Frau sass am Steuer, auf dem Hintersitz sass ein Kind. Sie überholten mich rechts, links ein Car. Das ratterte und Steine spickten umher. Nach hundert Metern lenkte die Frau das Auto wieder auf die Strasse und fuhr sittsam hinter dem Car her.» Der ältere, etwas reifere Bruder konnte Kurt bewegen, sich bei der Polizei zu melden. Kaum war der Hörer aufgelegt, stand schon ein Polizist da und fragte ihn aus. Die Rekonstruktion des Vorganges ergab, dass die Frau den Car überholen wollte und dieser gleichzeitig den Velofahrer. Wie der Car nach links ausschwenkte, riss die Frau das Steuer herum und kam eben aufs Trassee, auf dem sie frischfröhlich weiterfuhr. Glücklicherweise gab es ausser dem grossen Schrecken keinen nennenswerten Schaden. Der Lehrling fand, man mache auch gar schnell ein Theater.

Viel Wasser ist seit dem Unfall zwischen der Seetal-Bahn und dem Berna-Lastwagen die Ron und den Aabach hinuntergeflossen. Das Bahnhöfli Waldibrücke hat keinen Bahnhofvorstand mehr. Und wenn es ihn noch gäbe, dürfte oder müsste er keine rote Mütze mehr tragen. Die Sitten ändern sich auch bei der Seetalbahn. Vielleicht ist Euch, liebe Brattigleser, bei den Geschichtchen ein eigenes Erlebnis wieder in den Sinn gekommen. Macht doch bitte mit an unserem diesjährigen Preisausschreiben!

*Martin Bühlmann kam 1943 in Sempach auf die Welt und besuchte dort die Primarschule. Schwerenöter im Schreiben. Maximalnote 4. 1973 bis 2007 Logopäde in Hochdorf. Ist mit der Brattig seit 1980 auf dem Weg. Mitbegründer und selbsternannter Professor der Volksuniversität St.Peter und St.Paul Nunwil (kursiv) für Deutsche Kurrentschrift.

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