Waltraud Hörsch

Am Abend des 24. März 1906 bestieg ein Journalist sehr beeindruckt den Zug in Hochdorf, der von dieser Ortschaft bislang kaum etwas gehört hatte, und verfasste einen spaltenlangen Bericht über das Gesehene:

«Hochdorf scheint sich gegenwärtig zu einer eigentlichen Hochburg der Industrie im Luzerner Lande zu entwickeln. Überall wird da geschanzt und gebaut, neue Strassen städtischen Ansehens entstehen, und die Industrien schiessen nur so aus dem Boden: Ausser der ‹Lucerna› gibt es hier eine grosse mechanische Ziegelei, eine Schweiz. Farbholz- und Imprägnieranstalt AG, eine Stuhl- und Tischfabrik, eine Brauerei, aufs neueste eingerichtet, eine Armaturenfabrik, eine Parfümerie-, Seifen- und chemische Fabrik AG, eine Schiffli-Stickerei, eine Marmor-Mosaikplattenfabrik, die Reparaturwerkstätte der Schweiz. Seethalbahn (mit Direktionssitz), eine Maschinenfabrik (im Bau begriffen); dazu kommen die Volksbank Hochdorf, eine projektierte, vom Grossen Rat bereits beschlossene Filiale der Kantonalbank Luzern, dann das Töchterinstitut Baldegg, eine Sekundarschule, eine gewerbliche Fortbildungsschule und ein Arbeiterinnenheim für zirka 100 Arbeiterinnen (im Bau begriffen). Der Ort steht wirklich im Zeichen eines fast beispiellosen Aufschwunges und wird sich innert weniger Jahre zu einer ansehnlichen Industriestadt entwickeln.»

Ein wahres Feuerwerk an Industrien und eine einzigartige Gründerzeit-Euphorie hatte der Zeitungsschreiber des Berner «Bundes» in Hochdorf angetroffen (Ausgabe 26./27. März 1906). Der Vertreter des «Vaterlandes» prägte den Begriff «Neu-Hochdorf» und sprach von einer fast amerikanisch anmutenden Entwicklung (27.3.1906). Im «Centralschweizerischen Demokrat» war die Rede von der «Metropole des Seetals» (31.3.1906). Die Schweizer Presse war zu einem gross aufgezogenen Ereignis geladen worden: Die mit modernsten Maschinen ausgestattete Schokoladefabrik «Lucerna» stand nach halbjähriger Anlaufzeit in Vollbetrieb. Im neueröffneten Hotel Post, geführt vom «Hochdorfer Festspieldichter» Peter Halter und seiner Frau Anna Katharina, waren die Gäste von der Küchenmannschaft des Luzerner Hotels Viktoria bewirtet worden. Bahndirektor Theophil Schmidlin präsentierte nicht nur die «Lucerna», sondern ganz Hochdorf als einen Brennpunkt der Industrieentwicklung im Kanton Luzern.

Ein Wunder beginnt mit Theater

Die Gründungswelle setzte nach der Eröffnung der Seetalbahn eher zögernd ein (Ziegelei und Schweizerische Milchgesellschaft um 1895/97) und erklomm erst nach 1900 ihren Höhepunkt. Eine zentrale Rolle spielte Bahndirektor Schmidlin. Die Seetalbahn, die sich bereits bei der Gründung selbstbewusst als Verbindung zwischen Italien und Deutschland vorstellte, sollte zur rentablen Unternehmung werden. Zu diesem Zweck brachte Schmidlin das Seetal und Hochdorf in aller Munde.

Der Bahndirektor, ein begeisterter Schauspieler und gewissermassen der Intendant der Hochdorfer Theatergesellschaft, liess beim Bahnhof das grossstädtisch dimensionierte Schauspielhaus errichten. Das war ein rasch erstellter Zweckbau, jedoch mit ausgeklügelter Kulissen-und Bühneneffekttechnik, elektrischer Beleuchtung durch 700 Lampen, Ventilation und 1300 Sitzplätzen. Der markante Schnürbodenaufbau für Bühne und Kulissen war ein neues Kennzeichen der Hochdorfer Silhouette. Mit grosser Energie wurde das Unternehmen vorangetrieben.

Während noch um den Strassenabstand des Bauprojektes gefeilscht wurde, waren die ersten Szenenkulissen von Schillers «Wilhelm Tell» bereits gemalt. Das Orchester kam aus Luzern, die Kulissen gestaltete ein Zürcher Theatermaler. Die theaterbegeisterten Schweizerinnen und Schweizer des ausgehenden 19. Jahrhunderts reisten fast jährlich zu Freiluftspielen und patriotischen Inszenierungen. Ab 1899 war Hochdorf der Treffpunkt der Festspieltouristen. Wilhelm Tell (1899/1900) und Peter Halters «Arnold Winkelried» (1901/02) wurden als Theaterereignisse gefeiert. «Tausende haben hier während des Sommers 1901 wie an einem Altare des Vaterlandes ihren Patriotismus neu entzündet, und wieder werden hier Tausende im Sommer 1902 geloben, dem Vaterlande Alles zu werden», begeisterte sich der 1902 gedruckte Theaterführer. Bewährte Hauptdarsteller waren Theophil Schmidlin und seine Gattin Louise als bewegende Helden-Lebensgefährtin.

Bereits 1902 kamen die Zuschauer nicht mehr im erwarteten Ausmass. Eine Blütezeit der patriotischen Grossinszenierungen ging langsam zu Ende. 1903 suchte Bahndirektor Schmidlin Fabrikanten und Geldgeber, um den Theaterbau zu füllen. Diese Umnutzung wurde keineswegs als Stilbruch empfunden. Von Anfang an war das Theater für eine Zweitnutzung als Gewerbebau konzipiert worden. Und die Gründung von Industrien wurde ebenso als patriotische Tat gefeiert und inszeniert wie die Heldentaten Teils und Winkelrieds. So engagiert und einfallsreich wie für das grandiose Schauspielhaus wirkte Schmidlin auch als Intendant und Regisseur des Wirtschaftswunders Hochdorf.

Der Weltmarkt scheint zum Greifen nahe

Schmidlin brachte gewinnversprechende Industrien nach Hochdorf. Bereits um 1899 sollte die SMG in die Grossproduktion von sterilisierter Milch für die Hochseeschifffahrt einsteigen. Vor dem Ersten Weltkrieg reisten die Kondensmilch und das Kindermehl «Bébé» der SMG bis in den Fernen Osten. Die 1904 gegründete Parfümerie- und Seifenfabrik erweiterte unter Verwaltungsratspräsident Schmidlin die Produktepalette und unternahm den Einstieg in die chemische Industrie. Die 1904 im Theaterbau eröffnete «Schweizerische Farbholz- und Imprägnierungsfabrik» arbeitete nach einem Verfahren der Firma Grünhut & Rumpler in Wien und Budapest. Durchgefärbtes Holz in über 30 Farbvarianten sollte die Möbel- und Einrichtungsbranche revolutionieren. Kein Zufall, dass sich 1904 im Schauspielhaus auch ein Möbelfabrikant niederliess. 1904 wurde auch das Flaggschiff der Hochdorfer Industrie, das Unternehmen «Lucerna Anglo-Swiss Milk Chocolate Company», gegründet.

Der Zusammenbruch des Hauptfinanciers, der Bank Burkhardt in Zürich, im Jahre 1909 führte allerdings zur Ernüchterung. Zu gross gesteckte Erwartungen mussten redimensioniert werden, «Manager» die Sessel räumen. Der Konkurs der Lucerna Ende 1911 führte trotz der Übernahme durch Peter, Cailler, Kohler bei einigen Firmen zu grossen Verlusten und schwierigen Geschäftsjahren.

Hinter der Bühne des Wirtschaftswunders

Mit der Industrie kamen die Arbeiterinnen, Arbeiter, die Fachkräfte und ihre Familien – aus allen Regionen der Schweiz, aus dem Elsass, aus Deutschland, Österreich und Italien. Die Ziegelei, die Baufirma Ferrari und die Lucerna beschäftigten viele italienische Gastarbeiter und – arbeiterinnen. Innert weniger Jahre verdoppelte sich die Dorfbevölkerung auf 3000. Hochdorf erlebte eine überaus rasche Entwicklung zu modernen, fast städtischen Ortschaft, mit allen Strukturproblemen:

  • Wohnungsmangel und damit verbunden die Verteuerung von Wohnraum. Firmen wie die Lucerna oder die Ziegelei, Baugesellschaften, Private errichteten Angestellten-, Arbeiter- und Kosthäuser.
  • Schulprobleme. Das 1900 fertiggestellte neue Schulhaus stiess schon nach wenigen Jahren an die Grenzen seiner Kapazität. Dringend war auch das Bedürfnis nach beruflicher Aus- und Weiterbildung. Die Gewerbliche Fortbildungsschule entstand. Der von Zuzügern gegründete Kaufmännische Verein baute ein Kurswesen auf. Der Katholische Arbeiterinnenverein bot Mädchen und jungen Frauen Näh- und Kochkurse an. Die Baldegger Schwestern begegneten den Veränderungen mit innovativen Massnahmen: 1903 wurde das neue Töchterinstitut eröffnet, Ende 1906 ein konfessionell neutraler Kindergarten im Marienheim, der schon bei der Eröffnung etwa 70 Kinder zählte. 1911 folgten eine Handelsschule für Mädchen und ein Institut in der Westschweiz.
  • Neue Konsum- und Versorgungsbedürfnisse. Für den Detailhandel war Hochdorf ein attraktiver Standort. Die Witwe Justine Bullinger und die Brüder Bianchi verlegten ihr italienisches Comestiblegeschäft 1906 aus Zürich hierher. Die neuen Läden lockten das Publikum mit einem umfassenden Angebot, besonders an der Baldeggerstrasse: Handlungen für Lebensmittel, Einmachartikel, Eisenwaren, Nähmaschinen und Haushaltgeräte, Consumverein, neue Metzgereien, ein Fotogeschäft, eine Konditorei, eine Waschanstalt, Konfektionsgeschäfte und sogar zwei Kaufhausgründungen (wovon die eine, der Bon Marche vis-a-vis der Ziegelei, kurz nach der Gründung verschwand). Werbung und Konsum spiegeln die raschen Veränderungen. Maggi-Suppen-Rollen und das Kindermehl Bébé der SMG sollten den in den Betrieben arbeitenden Müttern und Hausfrauen das Kochen erleichtern. Die Inserate warben für Arbeitsschuhe und -kleider, und versprachen reelle Preise und «parlare italiano». Zur Weihnachtszeit weckte ein reich illustrierter Spielzeugkatalog des Louvre Wünsche auf «modern gekleidete Puppen» für Mädchen und Militärspielzeug für Knaben.

Nicht nur Strukturfragen wie die Elektrifizierung, der Strassenbau oder das Sozialwesen, die Einbindung der Zuzüger in Vereine und Interessengruppen beschäftigten die Gemeinde. Eine Begleiterscheinung der Konjunktur waren Lohn-und Arbeitskämpfe. Hochdorf erlebte den Generalstreik des 22. Juli 1907. 1909 brach die Krise um Industriefinanzierung und Lucerna aus. Es folgten Konjunkturschwankungen und schliesslich der Erste Weltkrieg. Die Zeit der Visionäre, der von Globus und Weltmarkt träumenden schnellen Macher, war in Hochdorf für längere Zeit vorbei. Der Vorhang auf der Bühne des Wirtschaftswunders war gefallen: Den übriggebliebenen Haupt- und den vielen Nebendarstellern, den Hochdorfer Bürgern, Geschäftsleuten, der unter Beschäftigungsmangel leidenden Arbeiterschaft blieb es vorbehalten, neue Rollen zu lernen, mit Anpassungs- und Durchhaltevermögen im veränderten Umfeld neue «Textbücher» zu schreiben…

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