Die Brattig ist Jahr für Jah ein Geschenk für viele Seetalerinnen und Seetaler auswärts. So hat Ludwig Suter das Thema in der Ausgabe 2019 illustriert. | © 2019 Seetaler Brattig

*Luzia Mattmann

«Grüezi, chaufed si d Brattig?» Dieses Sprüchlein gehört zum Seetaler Herbst wie Bohnäpfel und Wasserbirnen. Wie das Hochstamm-Obst ist mittlerweile auch die Brattig ein Exportgut. Abnehmer finden sich in allen Landesteilen, das Interesse reicht von Deutschland bis nach Kanada. Es sind Seetaler, die etwas weiter vom Stamm wegrollten, aber alle dasselbe Kerngehäuse haben. Als Knirpse lasen sie auf den Äckern Härdöpfel und Ähren zusammen, spielten im Wald mit Tannzapfen und liessen sich zu Hause in einem Zuber warmem Wasser sauberschrubben, weil es noch kein Badezimmer gab – zumindest bei den Älteren von ihnen.

Der Moser Stutz und die Seetalbahn

Ein solcher Auswanderer ist Franz Käch (83) aus Mosen, der heute in Deutschland lebt. Er war 25, als er aus dem Seetal nach Zürich zog, um Trams zu lenken und reparieren. Damit fuhr er beruflich auf der selben Schiene wie sein Vater – obwohl er wusste, wie hart dieser Job sein konnte. Vater Käch rückte nicht selten vor Sonnenaufgang aus. «Im Herbst musste er los, bevor der erste Zug kam», erzählt Franz Käch. «Wenn das Laub fiel, war die Strecke von Mosen nach Beinwil am See glatt wie Schmierseife.» Die Bahnarbeiter streuten Sand auf die Schienen, damit die Lok vorankam. Solch kleine Geschichten aus der Vergangenheit sind es, die er auch in der Brattig liebt. Mittlerweile wohnt sein Sohn Alex in Franz Kächs Elternhaus. Von da aus schickt er die Brattig jedes Jahr nach Deutschland. Bähnler ist der Junior zwar nicht. Das ist aber auch nicht weiter schlimm, denn der «Seetaler» erklimmt den Moser Stutz mittlerweile auch mit Herbstlaub ohne Probleme.

Ohne Brattig keine Weihnachten

Ebenfalls Familiensache ist die Brattig bei Ineichens aus Hochdorf. Bruder Franz (73) verschickt die Ausgaben in alle Himmelsrichtungen: zu Bruder Ueli nach Döttingen AG, zu Schwester Ruth nach Berlin und zu Monika ins bayerische Erlangen. «Wir machen uns sonst keine Weihnachtsgeschenke», sagt Franz Ineichen. «Aber Weihnachten ist erst Weihnachten, wenn die Brattig unter dem Baum liegt.» Bei Monika steht fast ein kompletter Satz Seetaler Brattigen in der Stube – nur die erste fehlt. Die Geschichten erwecken bei den Geschwistern Erinnerungen an die Jugend wieder zum Leben.

Zum Beispiel jene an die Fasnachts-Touren der beiden Ineichen-Brüder. Damals wohnte die Familie noch in Eschenbach. Die Buben zogen von der Chlöpfe bis nach Waldibrücke und gaben an den Bauernhöfen ihre Schnitzelbänke zum Besten. Das bescherte ihnen nicht nur stramme Waden, sondern auch volle Geldsäckel. «Wir verdienten einen rechten Batzen, der direkt ins Sparkässeli wanderte», sagt Franz. Allerdings habe man aufpassen müssen, das Spiel nicht zu weit zu treiben: «Wer am Aschermittwoch morgens früh noch in Fasnachtsmontur erwischt wurde, musste in die Kiste», weiss Franz. Ihnen sei das aber nie passiert, betont er.

Der «wöud Cheib» aus Urswil

Ein anderer Exil-Brattigleser behauptet hingegen, in der Jugend ein «zemmli wöude Cheib» gewesen zu sein. Alois Grüter (86), gebürtig in Urswil, hat im Seetal einige Abenteuer erlebt. Ausgestattet mit einem brillanten Erinnerungsvermögen und viel Witz, serviert die Frohnatur Anekdoten am Laufmeter. Alois Grüter erzählt von seinen ersten 15 Lebensjahren im Seetal, die eigentlich nicht nur Anlass zu Heiterkeit böten. Während seiner Schulzeit herrschte Krieg, die Lage war angespannt und im Winter 1945 ging im Hochdorfer Peter-Halter-Schulhaus die Kohle aus. Die Lehrer setzten Prioritäten: «Wir wurden während der Unterrichtszeit in den Wald geschickt, um Tannzapfen als Brennmaterial zu sammeln», erzählt Grüter. Die Schulkinder legten die Zapfen auf dem ganzen Schulhausplatz zum Trocknen aus. Ausserdem war das Essen rationiert: «Ohne Märkli gab es nicht einmal einen Cervelat.» Er und seine vier Geschwister sammelten auf den Äckern die Ähren, die nach der Ernte liegen geblieben waren und liessen sie dreschen und mahlen. Daraus buken sie Brot.

Mit 15 ging Franz nach Willisau, wo er eine Lehre zum Metzger machte, heute wohnt er in Ebnat-Kappel am Fusse der Churfirsten. Dass das Seetal etwas Besonderes sei, findet er noch immer. Die Reise der Ebnat-Kappeler Senioren, organisiert von Franz Grüter, führt heuer deshalb ins Seetal. Mit Halt in der Braui und Schifffahrt auf dem Hallwilersee. Anekdoten von früher inklusive.

Ein Luzerner im Wallis und umgekehrt

Ein richtiger Bergler ist inzwischen Theo Odermatt (65) aus Ballwil. Der Architekt lebt in Zermatt und hat quasi Platz getauscht mit Pater Christian Lorenz, der über 30 Jahre lang Pfarrer in Ballwil war. Der Luzerner im Wallis und der Walliser in Luzern haben sich näher kennengelernt, als Theo Odermatts Mutter im Sterben lang. Es war der Beginn einer Freundschaft, die auch ein regelmässiges Brattig-Päckli von Ballwil nach Zermatt mit sich brachte. «Obwohl ich schon seit über 40 Jahren nicht mehr im Seetal wohne, ist es meine Heimat», sagt Theo Odermatt. Er sei übrigens ein grosser Fan von Eliane Müller, erklärt er stolz. Und man merkt, dass er sich immer noch zu den Seetalern zählt.

Hockey war nichts für Mädchen

Die Brattig ist auch für Maria Cavalieri (87) eine Verbindung zu ihren Wurzeln. Damals hiess sie mit Nachnamen noch Keller und wohnte in der Hochdorfer Villa Erika. Sie war ein Einzelkind, der Vater ein Bähnler, die Mutter Hausfrau. Die Winter seien sehr kalt gewesen, sagt Maria Cavalieri. Aber sie brachten auch ein Eisfeld hinter der ehemaligen Metzgerei Balmer mit sich. Vom Vater bekam sie ein Saison-Abo für den ganzen Winter – und war stolz wie ein Maikäfer. «Die Buben der Schreinerei Bachmann schnitzten Hockeyschläger und verkauften sie für 1 Franken pro Stück», erzählt sie. «So einen hätte ich auch gerne gehabt, aber Vater meinte, das sei nichts für Mädchen.» Mit Hockeyspielen hats zwar nicht geklappt, dafür erlebte Maria Cavalieri manch andere Abenteuer. Sie hat viel von der Welt gesehen, war zur Nachkriegszeit in London, dann in Mailand und lebt heute im Tessin. Das Seetal hat sie nicht vergessen. «Ich habe zwar niemanden mehr da, aber mit der Brattig weiss ich, was im Seetal läuft.»

Bis nach Kanada

Den weitesten Weg macht wohl die Brattig von Alfred Lüpold aus Ermensee. Sie fliegt über den Atlantik bis nach Kanada, genauer in die französischsprachige Provinz Québec, zu Tochter Anita Arnold-Lüpold (43). Vor über 20 Jahren ist die gelernte Köchin ausgewandert und lebt jetzt zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern auf einem 130 Hektaren grossen Hof mit 70 Kühen und 90 Rindern und Kälbern. «Die Brattig ist für mich ein Stück Heimat», sagt Anita Arnold. Regelmässig frischt sie ihre Erinnerungen ans Seetal auf: «Meine Kinder lieben den Sieben-Brüggli-Weg beim Schloss Heidegg», sagt sie. Alle sprechen Schweizerdeutsch.

Auf Fotopirsch im Seetal

Die Gegend rund um Hitzkirch ist auch Martin Angst (64) die liebste im Seetal. Der Brattigleser aus Zürich ist den umgekehrten Weg gegangen und hat das Seetal erst in den letzten paar Jahrzehnten entdeckt. In den 1980-er Jahren pendelte der Zugfan an seinen freien Tagen ins Seetal, um Züge und Stationsgebäude zu fotografieren, die es heute zum Teil gar nicht mehr gibt. Warum er für sein Hobby ausgerechnet das Seetal ausgewählt hat? «Es ist landschaftlich mehrheitlich unberührt und doch gut erreichbar», sagt er, der es beruflich eher mit dem Fliegen hat: 42 Jahre lang arbeitete er bei der Swissair und machte dort Gewichtsberechnungen für Flugzeuge. Martin Angst sagt, oft sei er nach einer Fototour im Hitzkircher «Kreuz» von Walti Wildisen eingekehrt und habe in ihm einen guten Freund gefunden.

Die Seetaler lernte er als gmögiges Völkchen kennen. «Zuerst sind sie etwas zurückhaltend, mit der Zeit aber offen und sympathisch.» Durch die Brattig erfahre er immer wieder Neues über seine Adoptiv-Heimat, erzählt er. Sogar seine Freundin, die aus Brasilien stammt, führt regelmässig Verwandte in der Gegend herum. Die Brasilianer seien begeistert von der Seetaler Landschaft. Vermutlich liegts auch an den Hochstämmern.

Luzia Mattmann (geboren 1981), wuchs auf einem Bauernhof in der Unter-Illau (Gemeinde Hohenrain) auf. Sie studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, lernte beim «Seetaler» das journalistische Handwerk und war sieben Jahre bei der «Luzerner Zeitung« tätig. Heute arbeitet Sie als Journalistin beim Magazin «Gesundheitstipp». Sie lebt mit ihrer Familie, zu der zwei Buben gehören, in Horgen.

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