Ludwig Suter hat für Toni Weingartners Beitrag in der Brattig 2006 die Pfarr- und Wallfahrtskirche Melchtal gezeichnet. | © 2066 Seetaler Brattig

Toni Weingartner, Hitzkirch

Zusammen mit meiner Gattin Anna erlebte ich vor mehr als dreissig Jahren etwas Seltsames, von dem wir bis heute gegenüber Dritten nie etwas erwähnt haben. Man hätte uns nicht geglaubt, hinter unserm Rücken über uns gelacht, uns vielleicht sogar als Spinner tituliert. Inzwischen sind wir älter und reifer geworden. Das Gerede der Leute interessiert uns nicht mehr so sehr, wir vertrauen unser Erlebnis der Brattig an.

Der Heuet ist vorbei. Für uns Bauern stehen ein paar ruhigere Tage bevor. Wir begeben uns auf eine zweitägige Bergwanderung ins Melchtal. Unser Ziel ist die Nünalphütte und der Huetstock. Das Postauto hält unweit der Wallfahrtskirche. Anna meint, es schade nichts, wenn wir vor dem Unternehmen unsern Schutzengel um seinen Beistand bitten würden. Ich hingegen möchte lieber weiterziehen, doch Anna lässt sich nicht beirren. Also treten wir zu einem kurzen Gebet in die Kirche.

Mit ein paar Minuten Verspätung auf die von mir berechnete Marschtabelle beginnen wir den Aufstieg. Über blühende Alpweiden, verschwenderisch in ihren Farben und ihrer Vielfalt, auf schmalen Grasbändern und Felswegen steigen wir aufwärts zur Nünalphütte, in der wir nächtigen wollen. Der Schnee ist hier noch nicht vollständig weggeschmolzen. Wir sind froh darüber, denn in der Hütte gibt es kein fliessendes Wasser.

Der Morgen dämmert; es ist kalt und das wenige vorhandene Gras ist gefroren. Der Aufstieg zum Huetstock ist mir vertraut: über das Grasband zur Vorstegg, dann der Abstieg über die grosse Mulde zuoberst im Zigertal und von da der Direktaufstieg über Geröll und Fels zu unserem Ziel. Wir fragen uns, wer wohl den neuen, langen Brunnentrog in diese Steinwüste gesetzt habe. Da schreiten plötzlich zwei junge Männer mit auffallend seltsamer Leichtigkeit über das grobsteinige Gelände auf den Brunnen zu, greifen mit beiden Händen in den Brunnentrog und waschen ihre Gesichter mit dem kalten Nass. Um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, frage ich sie: «Wollt Ihr auch zum Huetstock aufsteigen?» Ohne die Frage direkt zu beantworten und uns nach unserem Vorhaben zu fragen, warnen uns die beiden: «Geht zurück zur Vorstegg und wählt den dortigen Einstieg. Der Aufstieg von hier aus ist zu gefährlich.»

Wir befolgen ihren Rat. Nach ein paar Schritten schaue ich nochmals zurück, um festzustellen, wohin die beiden weiterziehen. Seltsam: ich sehe sie nicht mehr. Ich lasse einen Jauchzer erschallen und hoffe auf eine Antwort. Nichts ist zu hören.

Eine halbe Stunde später; von der Geröllhalde her, ein lautes «Tätsche und Brägle» von Felsstücken erschreckt uns. Wir sehen, wie sich ein grosser Steinschlag immer weiter ausbreitet, und zwar genau dort, wo wir jetzt stehen würden, wenn wir nicht von den beiden Wanderern gewarnt worden wären. Wir stehen still, betrachten das Ereignis von sicherer Warte aus. Anna und ich schauen uns wortlos an, und steigen in Gedanken versunken Schritt für Schritt aufwärts. Plötzlich erschallt ein Jauchzer, und wir sehen zwei Männer auf dem höchsten Felsen des Fed, die uns mit beiden Armen zuwinken. Wir können nicht zurück rufen, wir bringen keinen Ton heraus.

Um die Mittagszeit wollen wir wieder im Zigertal sein, bei jenem Brunnen, bei dem wir am Morgen die Begegnung mit den beiden Männern hatten. Wir steigen auf dem gleichen Weg ab, den Brunnen finden wir aber nicht mehr. Das verstehen wir einfach nicht; wir können uns doch nicht dermassen getäuscht haben. Und was ist mit den beiden Männern, wer sind sie?

Meine Frau und ich haben im Laufe der letzten Jahrzehnte immer wieder über die seltsame Begebenheit gesprochen. Heute sind wir überzeugt, dass die Warnung vor dem direkten Aufstieg mit unserer Bitte in der Wallfahrtskirche im Melchtal in einem Zusammenhang stehen muss. Ob man uns glauben will oder nicht: Wir haben etwas gespürt und erfahren, was vermutlich nur wenigen in so deutlicher Art beschieden ist, nämlich dass der Schutzengel, zu dem wir gebetet hatten, uns beigestanden ist.

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