Der «Vaterland»-Redaktor, gezeichnet von Ludwig Suter in der Brattig 2007. | © 2007 Seetaler Brattig

*Martin Merki

Das Vaterland, von dem hier die Rede ist, bestand bis vor fünfzehn Jahren für die meisten Luzerner aus Papier, denn es war eine Zeitung. Da eingegangene Zeitungen noch rascher vergessen sind als verstorbene Mitmenschen, ist es wohl nötig, die 120-jährige Geschichte der Zeitung mit dem patriotischen Namen im politischen Blätterwald kurz zu erwähnen. Als «konservatives Zentralorgan für die deutsche Schweiz» war das «Vaterland» 1871 auf dem Luzerner Medienmarkt erschienen. Es hatte eine Vorgängerin von gleicher politischer Farbe, herausgegeben von der gleichen Verlegerfamilie Raeber. Als Untertitel blieb der Name der «Luzerner Zeitung» im Zeitungskopf des «Vaterland konserviert. Anfang und Ende des «Vaterland» wirkten in der Distanz von 120 Jahren gleicherweise überraschend: 1871 war die Zeitungsgründung zehn Tage vor dem ersten Erscheinen angekündigt worden; 1991 meldete das «Vaterland» am 7. August, dass diese Zeitung am 31. Oktober eingehen werde. Zur Sensation trugen diverse Umstände bei: Das Ende des CVP-nahen «Vaterland» ging einher mit dem Ende des FDP-nahen «Luzerner Tagblatt». Die beiden Traditionsblätter – einst verfeindet, seit 1972 im gemeinsamen Inseratenteil verbrüdert — fusionierten unter dem neuerweckten «historischen» Titel «Luzerner Zeitung», sie erschien erstmals am 2. November 1991. Nur fünf Jahre später begann endgültig das neue Zeitungs-Zeitalter in Luzern, als auch die LNN (seit 1973 ein Ringierprodukt) mit der «Luzerner Zeitung» fusionierte, die fortan ohne lokale Konkurrenz als «Neue Luzerner Zeitung» ab Januar 1996 die Leser erreichte.

Turbulenzen und Zeitungssterben

Das Zeitungssterben gegen Ende des letzten Jahrhunderts war ein landesweites Phänomen, das in den Sechzigerjahren eingesetzt hatte. Wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und technische Gründe bedrängten die Existenz etlicher Verlage. Die kleinräumige Schweiz als Land der grössten Zeitungsdichte bot zu schwache Ressourcen für technische Modernisierung der Druckereien, die Presse wurde überdies von neuen Medien konkurrenziert. Auf dem stabil scheinenden Zeitungsplatz Luzern mit drei Tageszeitungen spöttelten Redaktoren über die Existenzkrisen mit dem Spruch: «Wir sind uns alle einig, dass es eine Zeitung zu viel gibt, aber welche? Das ist das Problem der beiden andern».

Die letzten Jahrzehnte des journalistischen Dreigestirns waren geprägt von häufigen Turbulenzen und Krisen bei allen drei Zeitungen. Die Verlage ersannen neue Konzepte und Strukturen; Kooperationen, inhaltliche Vielfalt und Gratisangebote von Lockvögeln waren Rezepte gegen stagnierende Auflagen. Aufsehen erregten jeweils Wechsel in den Positionen der Chefredaktoren. In einer Sonderbeilage der allerletzten Ausgabe des «Vaterland» am 31. Oktober 1991 schilderten die fünf Chefredaktoren der letzten Periode 1971 bis 1991 ihre Gratwanderungen und die Impertinenz der Kritiker. Es waren dies: Otmar Hersche (1971–1974); Hans Theiler (1974–1977); Alois Hartmann (1978–1982); Hermann Schlapp (1982–1987); Klaus Röllin (1987–1991). Röllin bewältigte als nervenaufreibende Leistung die Integration der Redaktionen von «Vaterland» und «Luzerner Tagblatt»; als Chefredaktor führte er das heterogene neue Team des Fusionsprodukts bis September 1993.

Ein letztes «Vaterländisches» Kuriosum

Nach dieser Einleitung über das «Vaterland» an sich komme ich zum Thema: Erinnerungen an eine Besonderheit dieser Zeitung in den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz. Sie verdient es, in der Brattig für die Nachwelt aufgezeichnet zu werden, geht es doch um ein redaktionelles Kuriosum, welches eng mit dem Seetal zusammenhängt und ihm auch zur Ehre gereichte. Doch wurde es innerhalb und ausserhalb der Talschaft eigentlich kaum wahrgenommen. Höchste Zeit also, es wenigstens hinterher zu würdigen. Lassen wir also die Schmeichelkatze aus dem Sack: Das Seetal stellte in den Siebziger- bis zum Ende in den Neunzigerjahren das grösste Kontingent an Redaktoren am «Vaterland», mehr als jeder andere Landstrich im Luzernbiet. Ein Blick auf diesen journalistischen Stosstrupp zeigt, dass ihm geistige Schwergewichte angehörten, zumal in den Sparten Politik und Kirche, die sich um Gott und die Welt bekümmerten. Aber auch Gemütsmenschen waren dabei, welche die lustvolleren Bereiche des Lebens in Kultur und Gesellschaft interpretierten und abfeierten. Erstere repräsentierten redaktionsintern den Ernst der Arbeit, letztere hellten darüber hinaus oft die kollektive Gemütslage im Team auf.

Geborene und zugezogene Seetaler

Im erwähnten Zeitraum war das Redaktionsteam auf einen mittleren Bestand von dreissig Köpfen angewachsen. Zehn davon sind der imaginären Seetal-Fraktion zuzuordnen, allerdings in unterschiedlichen Verwandtschaftsgraden; nicht alle hatten Wohnsitz im Seetal. Zu den «verwurzelten» Seetalern gehörten Auslandredaktor Otto Schmid, (Kürzel O.Sch.) aus Hochdorf; Kulturredaktor Anton E. Müller (am-e.) aus Ermensee; Ausland- und Kirchenredaktor Fritz Helfenstein (fh), als Ballwiler Wirtssohn aufgewachsen, wo er, nach Unterbrüchen, auch lebte; Bundeshausredaktor und Chefredaktor 1978–1982 Alois Hartmann (A.H.) aus Altwis; Bundeshausredaktor Hans Wili (Wi) aus Hitzkirch; der ständige Mitarbeiter Joseph Bühlmann (J.B.) von und zu Gibelflüh, Gemeinde Ballwil; Reporter und Kolumnist Giancarlo Gonnella (go), aufgewachsen in Hochdorf.

Zugezogene und daher «eingefärbte» Seetaler beim «Vaterland» waren Inlandredaktor Walter E. Laetsch (wl), Stadtluzerner mit Wohnsitz in Ballwil; Luzernbietredaktor Joseph Felder (jf., Chief), von Geburt (Berufs-)Entlebucher, Wohnsitz in Emmen, also an der Wegscheide Entlebuch/Seetal; Hans Moos (H.M.), Redaktor im Ressort Inland, zeitweise Bundeshausredaktor, mehrere Jahre Leiter der Regionalen Ressorts und Ressortleiter Kanton Luzern, stv. Chefredaktor 1987–91. In Ebikon aufgewachsen, gab 1983 die Heirat mit einer Seetalerin den Ausschlag zur Wohnsitznahme in Ballwil. 2001 als nebenamtlicher Gemeindepräsident gewählt, stellt er seither die Zugehörigkeit zum Seetal intensiv unter Beweis.

Nie als Seetaler Fraktion wahrgenommen

Als ich 1973 von den LNN zum «Vaterland» gewechselt hatte, verging geraume Zeit, bis ich die internen Seilschaften intus hatte. Auch wenn sie bestandesmässig unübersehbar war, von einer Seetaler-Fraktion war nie die Rede, höchstens beim gegenseitigen Necken am sagenhaften Stammtisch im benachbarten «Maihöfli», welcher freitags die gesamte Redaktion nach Abschluss der Wochenendausgabe zur geselligen Runde lockte. Redaktionsintern gab es wohl andere «Fraktionen», offizielle und eingebildete, die von Ressortszugehörigkeit oder Sachbereichen abhingen, z.B. die Überregionalen der Politik (Ausland, Inland, Wirtschaft, Kultur + Kirche); oder die minderen Regionalen (Luzernbiet, Stadt und Kanton Luzern, Innerschweiz).

Neben der virtuellen Seetaler Seilschaft gehen mir im Rückblick weitere «Klüngel» — echte oder eingebildete — durch den Kopf, etwa die Aristokraten («ächti Lozärner») oder die nicht mindere Elite der «Intellektuellen und Kultur-Arbeiter».

Politische Göttis für «Vaterland»-Redaktoren?

Woher rührte es, dass über Jahrzehnte hinweg ein gutes Drittel der «Vaterland»-Redaktoren als Seetaler definiert werden konnten? Nicht Phantasie, sondern statistische Daten belegen, dass diese Quote ein einmaliges Phänomen darstellte, zumal es über ein Vierteljahrhundert als Ganzes konstant blieb. Bezogen auf den Kanton Luzern hatte das Amt Hochdorf in jener Periode einen Anteil von rund 17 Prozent der Wohnbevölkerung. Nun werden ja Redaktionsposten nicht proportional aus dem Einzugsgebiet einer Zeitung rekrutiert. Bei der bescheidenen Grösse damaliger Redaktionsteams sind kaum gleichgelagerte Gründe für die Besetzung von Positionen festzustellen. Die Entstehung des «Redaktoren-Stosstrupps aus dem Seetal» beim «Vaterland» war weder beabsichtigt noch irgendwie gesteuert; sie ergab sich über die Jahre hinweg einfach so. Als Wahlkreis mit CVP-Mehrheit mag für Bewerbungen die weltanschauliche Nähe mitgespielt haben, die sich mit dem Ansehen und der Verbreitung der Zeitung in der Talschaft deckte. Politische Göttis hatten da kaum je die Hände im Spiel.

Welterfahrene Charakterköpfe…

Der hier verewigte Seetaler Redaktoren-Stosstrupp trat, wie bereits erwähnt, nie als Formation auf. Im «vorfusionierten» Journalismus gelangten Redaktoren noch häufig als Publizisten zu Ansehen, sei es durch Leitartikel, Kommentare, analysierende Berichte, welche im Gegensatz zum anonymen Nachrichtenstil von der persönlichen Handschrift, dem Urteil und Denken der Verfasser geprägt waren. Sie trugen stark dazu bei, dass die Identität zwischen Redaktoren und Leserschaft tiefer wurzelte als heute. Solche journalistische Charakterköpfe gab es unter den Seetalern. Als erster zu nennen ist Otto Schmid, der Nestor der letzten «Vaterland»-Generation. Auslandredaktor und Mitglied der Chefredaktion, lebte er dem verjüngten Team eine Generationen übergreifende Kollegialität vor. Geprägt von den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges, verfügte er über ein sicheres politisch-globales Urteilsvermögen. Im einstmals bloss fünfköpfigen Redaktionsteam erwies er sich zu Beginn seiner Tätigkeit als Multitalent, betreute er doch den Sportteil ebenso wie Musikrezensionen und kantonale Politik, in welcher er als Grossrat ein geachteter Mitgestalter war.

Als Redaktor im Ausland- und Kirchenressort galt Fritz Helfenstein als Vordenker in politischen und gesellschaftlichen Fragen. Feingefühl und wacher Geist lenkten in der nachkonziliaren Kirche sein Urteil, abwägend und ausgleichend. Das Laute und Lärmige des Medienbetriebs war nie seine Sache gewesen. Er verabschiedete sich davon, als ihn die Schweizer Caritas als Informationschef ins Hilfswerk berief, eine Aufgabe, die seiner sozialen Ader entsprach.

Als politische Leitfigur mit ausgeprägt journalistischer Einsatzfreude stand Alois Hartmann von 1973 bis 1982 im Dienste des «Vaterland», zuerst als Bundeshausredaktor, dann fünf Jahre als Chefredaktor auf der höchsten Stufe beim «Vaterland» und auch im Seetaler Stosstrupp. Seine politische Triebkraft hatte sich zuerst die CVP Schweiz als Informationschef zu Nutzen gemacht. Sein Ausscheiden beim «Vaterland», klar gegen den Willen des Redaktionsteams, gereichte dem Unternehmen nicht zur Ehre, es führte fünf Jahre später zum nächsten Fiasko. Seine politische Führungskraft stellte Hartmann, nach einem ebenso engagierten Einsatz bei der Caritas Schweiz, als Sekretär der CVP des Kantons Luzern zur Verfügung.

Zur politischen Fraktion mit Seetaler Nähe gehörten teils im Bundeshaus, teils auf der Redaktion Hans Wili, Walter E. Laetsch und Hans Moos. Letzterer übernahm in den schwierigen Phasen der «Fusionitis» integrierende Leaderfunktionen als Leiter der Gruppe Regionale Ressorts und Ressortleiter Kanton Luzern. Seine Rolle als politischer Redaktor interpretierte er als kompetenter Beobachter mit ausgewogenem Urteil. In der Phase der gesellschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Kurssuche der «Neuen LZ» mahnte er im Team öfters die «alten» ethischen Werte des Qualitätsjournalismus an. Sein Ausscheiden bedeutete das Ende des einst traditionsgemäss politisch engagiert wegweisenden Journalismus im Maihofhaus.

… und Gemütsmenschen

Bleibt ein Blick auf die Fraktion der «Gemütsmenschen», welche der Leserschaft nicht die Kompliziertheit von Welt und Menschheit erläuterten. Sie lieferten vielmehr die journalistische «Gratifikation» als Lesevergnügen, nämlich Schönes, Gefälliges und Gemütshaftes.

Der Altmeister in dieser Sparte war Kulturredaktor Anton E. Müller, künstlerisch begabt als sprachlicher Stilist, tieflotender Verseschmied und hochbegabter Zeichner (zitiert aus einer Laudatio des Kollegen «Chief»). Unvergessen bleiben das von ihm betreute Wochenend-Magazin, ein echtes volkskundliches und lokalhistorisches Schatzkästchen.

Als «heruntergekommener Entlebucher» am Rande des Seetals angesiedelt, gehörte Josef «Chief» Felder zu den originellen Köpfen in der Luzerner Presseszene. Vom grossen Mann des «Vaterland» in der Nachkriegszeit, Chefredaktor Karl Wick, berichtete «Chief» zeitlebens strahlend, dass er diesen herausragenden Publizisten persönlich erlebt habe. Und er fügte bei, dass dieser ihn als journalistisches Fliegengewicht ermuntert habe, «seinem Stil — der zwar keiner sei —treu zu bleiben». Seine Meisterleistung in dreissig Journalistenjahren bestand in den gegen tausend Lebensbildern, von denen eine Auswahl unter dem Titel «Lozärner Chöpf» in Buchform erhalten blieb. Diese gemüthaften Menschenschilderungen waren bei der Leserschaft unglaublich beliebt. Er wählte die Sujets nicht nach dem Stellenwert «hoher Tiere», denn Chief fühlte sich am wohlsten bei den sogenannt kleinen Leuten.

Als Stilverwandter von Chief galt Giancarlo Gonnella. «Es gibt wenige, die Glück und Elend, Glanz und Vergänglichkeit des Journalistenberufes so engagiert und in allen Dimensionen durchwirkt und durchlebt haben», schrieb Anton Müller über ihn bei seinem frühen Tod. Temperament, Ideenfülle und Erlebnistiefe leiteten den begnadeten Fabulierkünstler, in grossen Reportagen, so in 107 ganzseitigen Präsentationen der Luzerner Gemeinden oder in journalistischen Miniaturen. Legendär war seine Kolumne «Sternenstübli», in dem er unterhaltsam über Menschen und Zeitansichten plauderte.

In diese Gruppe eingereiht zu werden, verdient auch der Seetaler Lokalhistoriker Joseph Bühlmann. Es bleibt bei der Erwähnung; nachdem ihm die Brattig 2006 eine schöne Würdigung gewidmet hatte.

Der «Redaktoren-Stosstrupp aus dem Seetal» ist bloss eine journalistische Chimäre der Erinnerung, zu Ehren der Verstorbenen und als kollegiale Anerkennung für die noch lebenden Ehemaligen.

*Martin Merki (1931-2014) wuchs als Bauernbub in Oberrohrdorf AG auf. Das Gymnasium musste er krankheitsbedingt abbrechen; er machte darauf eine kaufmännische Lehre und stieg 1959 über das «Aargauer Volksblatt» in den Journalismus ein. 1968 zog die Familie nach Luzern, von wo seine Frau Helen Deicher stammte. Merki wechselte zur LNN («Luzerner Neuste Nachrichten»), 1973 zum «Vaterland», das ihm parteipolitisch näher stand. Vielen ist Martin Merki als leidenschaftlicher Journalist in Erinnerung, der das politische Gschehen im Kanton Luzern während Jahren verfolgt und kommentier hat und auch publizistische Wahlkampfhilfe für die CVP betrieb. Merkis Polit-Kolumne «Bemerkungen» am Samstag im «Vaterland» (später in der «Luzerner Zeitung» und «Neuen Luzerner Zeitung») liessen niemanden kalt.

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