*Max Huber, Luzern
An jenem Samstag war es heiss im Seetal. Man schrieb den 1. August 1835. In Mosen waren die Bauern und ihre Knechte mit der Getreideernte beschäftigt. Sie beeilten sich, denn es schien, als ob es gegen Abend ein Gewitter geben würde. Die beiden Brüder Johann und Josef Wili waren Fischer am Hallwilersee. Sie besassen aber auch eine der grösseren Liegenschaften im Dorf mit Feldern, Matten und Weiden.
Als Josef Wili das Plätzchen erreichte, entdeckte er, dass sich dort bereits drei Jungen aufhielten. Jakob Widenmeyer und Heinrich Wili, beide etwa 14-jährig, sassen am Ufer. Der dritte, Kaspar Wili, der nur ein Jahr jünger war als Josef, war am Baden. Er war der Sohn armer Leute und arbeitete als Strumpfweber für die Textilindustrie. Jetzt bewegte er sich mit Hilfe von zwei zusammengebundenen Rohrbündeln im Wasser. Alle drei, das wusste Josef, konnten nicht schwimmen. Herrisch forderte Josef die Burschen auf, Platz zu machen. Die beiden Vierzehnjährigen gehorchten widerwillig, Kaspar hingegen gab keine Antwort und planschte weiterhin mit seiner Schwimmhilfe im Bereich des Schilfs umher. Josef zog sich aus und stieg ins Wasser, die anderen Burschen zogen es vor, am Ufer zu bleiben.
Es scheint, dass sich Kaspar durch das selbstbewusste Gehabe Josefs herausgefordert fühlte, jedenfalls schwamm er diesem voraus, durch den Schilfgürtel ins offene Wasser, wo er vom Ufer aus nicht mehr gesehen werden konnte. Was weiter geschah, konnten die am Ufer verbliebenen Burschen nur als Ohrenzeugen schildern. Der einzige Augenzeuge war Josef, der zwei Tage später Folgendes zu Protokoll gab: «Auf einmal sah ich ungefähr acht Schritt von mir entfernt, zirka 20 Schritte ausser dem Rohr, eines der Rohrbündel, auf denen er schwamm, auf der Oberfläche des Wassers u. ihn untersinken.» Josef Willi konnte als Fischer zwar schwimmen, doch zum Lebensretter scheinen seine Künste nicht ausgereicht zu haben. Er konnte den Untergehenden nicht mehr erreichen und rief daher den Burschen am Ufer zu, sie sollten mit einem Schiff zu Hilfe kommen. Bis dieses Boot bereit war, dauerte es allerdings viel zu lange. Vom Jungen fehlte jede Spur.
Gemeindeammann Kaspar Willi
Kreuzwirt Kaspar Willi (1801-1882) aus Mosen war ein überzeugter Liberaler. Als die Konservativen um Josef Leu 1841 im Kanton an die Macht gelangten, blieb er vorerst Gemeindeammann und Gemeindepräsident. Er nahm 1844 und 1845 an beiden Freischarenzügen teil und soll auch andere zur Teilnahme motiviert haben, so etwa den Fischer Josef Willi. Nach dem ersten Freischarenzug floh Willi aus dem Kanton Luzern und hielt sich zeitweise in Menziken AG auf, nach dem zweiten wurde er verhaftet und musste eine Kaution bezahlen. Nach der Niederlage der Konservativen im Sonderbundskrieg 1847 wurde er wieder Gemeindepräsident, begnügte sich nun aber mit dem weniger aufwendigen Amt des Gemeindeverwalters. Gleichzeitig sass er als Richter bis 1867 im Bezirksgericht Hitzkirch, und von 1847 bis 1854 vertrat er den Wahlkreis Aesch im Grossen Rat. Sein Sohn Dominik war ebenfalls Wirt im «Kreuz» und Gemeindeammann, dazu übernahm er nach der Eröffnung der Seetalbahn auch den Posten des Stationsvorstandes. Kaspar Willi starb am 12. April 1882.
Zusammen mit seinem Vater und dessen Bruder unternahm Josef einen Versuch, vom Boot aus «mit dem Garn» (d. h. mit einem beschwerten Netz) die Leiche Kaspars zu bergen. Der Versuch musste wegen des nun hereinbrechenden Gewitters abgebrochen werden. Am anderen Morgen früh unternahmen sie einen weiteren Bergungsversuch. Nachdem sie das Netz zum zweiten Mal ausgeworfen hatten, gelang es ihnen, den Ertrunkenen aus einer Tiefe von 7 Klaftern (ca. 13 Meter) heraufzuziehen.
Das Vorgehen der Behörden
Das Vorgehen der Behörden mutet in diesem Fall sehr «modern» an und unterscheidet sich kaum vom Verfahren, wie es heute angewandt würde. 1831 war im Kanton Luzern eine Gruppe von zumeist jungen, gut ausgebildeten und fortschrittlich-liberal gesinnten Männern an die Macht gelangt, welche die Verwaltung und Justiz professioneller und systematischer organisierten. Eine wichtige Funktion hatte dabei der Amtsstatthalter als Vertreter der Regierung in den Ämtern, eine Rolle, die früher — mit Pomp und Perücke — dem Landvogt zugekommen war. Seit 1814 gab es überdies in jeder Gemeinde den Gemeindeammann, der mit finanziellen und polizeilichen Aufgaben betraut war. Er wurde damals nicht von den Wahlberechtigten der Gemeinde in dieses Amt gewählt; die Regierung wählte unter den Gemeinderäten den ihr am fähigsten erscheinenden Mann dafür aus.
Einen Unglücksfall mit Todesfolge hatte der Gemeindeammann, «auch wenn kein Verdacht verübten Vergehens vorhanden ist», unverzüglich dem Amtsstatthalter zu melden. Im vorliegenden Falle mahlten die Mühlen der Behörden effizient. Der Gemeindeammann von Mosen erhielt noch am Abend des Unglückstages die Meldung. Dieser trug, eine Laune des Zufalls, denselben Namen wie das Opfer. Allerdings war dieser Zufall auch wieder nicht so riesig, denn von 35 Landbesitzern in Mosen hiessen damals nicht weniger als 23 Wili. Diese wurden im Alltag durch Über- und Beinamen auseinandergehalten. (Erst um 1860 setzte sich die Schreibweise «Willi», die in den Pfarrbüchern von Aesch schon wesentlich früher auftaucht, allgemein durch.) Der 34-jährige Kaspar Wili war Wirt im «Kreuz» und amtete seit 1829 als Gemeindeammann. Im Gemeinderat, den er präsidierte, sass er neben zwei weiteren Namensvettern: Waisenvogt Joseph Wili und Gemeindeverwalter Andreas Wili. Kaspar Wili war ein Vertreter der jungen Generation und hatte keine Mühe mit den zahlreichen neuen Regeln und Gesetzen, mit denen die Advokaten um Kasimir Pfyffer den Kanton reorganisierten.
Nachdem die Leiche des Ertrunkenen am frühen Morgen des 2. Augusts aufgefunden worden war, setzte sich Gemeindeammann Wili hin und schrieb einen kurzen Brief an den Amtsstatthalter Leonz Ineichen in Hochdorf, in dem er ihn über den Vorfall benachrichtigte. Der Leichnam liege nun im Elternhaus und werde dort bewacht, bis der Amtsstatthalter weitere Anordnungen geben würde.
Dieser zögerte nicht lange, sondern begab sich zusammen mit dem Amtsschreiber Jakob Bossart und dem Bezirksarzt Dr. Jakob Schmid von Hitzkirch nach Mosen zum Augenschein. Über das Verkehrsmittel erfahren wir nichts, aber es ist anzunehmen, dass man sich einer Pferdekutsche bediente. Um vier Uhr nachmittags trafen die drei Amtspersonen in Mosen ein und eilten gleich zum Seeufer, wo ihnen die beiden 14jährigen Knaben den Hergang des Unglücks schilderten. Der Gemeindeammann berichtete über die von ihm getroffenen Anordnungen und gab zu Protokoll, dass er den Toten als den 16-jährigen Kaspar Wili erkannt habe und dass kein Verdacht auf ein Verbrechen vorliege. Der einzige Augenzeuge, Josef Wili, konnte wegen Abwesenheit nicht einvernommen werden.
Amtsstatthalter und Arzt nahmen daraufhin eine äusserliche Untersuchung des Leichnams vor, der bereits einige Totenflecken aufwies. Sie konnten keine Spur einer erlittenen Gewalttätigkeit oder Verletzung bemerken. Auf die Vornahme einer Obduktion wurde deshalb verzichtet. Als Todesursache erkannten die beiden auf Tod durch Ertrinken. Darauf erteilte der Amtsstatthalter die Erlaubnis zur Beerdigung. Mit dieser wartete man nicht lange zu: Sie wurde auf Montagmorgen, sechs Uhr in der Pfarrkirche Aesch festgelegt. Der Amtsschreiber hielt die Untersuchung in einem «Verbal-Prozess» (Protokoll) fest, der durch die drei Amtspersonen unterzeichnet wurde.
Am Nachmittag desselben Tages wurde der 17-jährige Fischer Josef Wili auf dem Statthalteramt Hochdorf einvernommen. Auf die Frage des Amtsstatthalters: «Seid Ihr nicht dabei gewesen, als am letzten Samstag Abends der Knab Kaspar Wili von Mosen im See verunglückte?» antwortete er mit: «Wohl ja» — damit gab der Amtsschreiber wohl den Dialektausdruck «mou» wieder. Danach hatte Wili das Unglück und die Bergungsversuche zu schildern. Das vom Amtsschreiber verfertigte Verhörprotokoll bestätigte der Einvernommene mit geübter Unterschrift «Joseph Wili des Fischers».
Zwei Tage später schickte Amtsstatthalter Ineichen mit der Rechnung auch die wenigen Akten (Untersuchungsbericht, Verhörprotokoll und den Brief des Gemeindeammanns) nach Luzern an die Justiz- und Polizeikommission. Diese, ein fünfköpfiger Ausschuss der aus 15 Männern bestehenden Regierung, hatte die Aufsicht über das Polizeiwesen im Kanton. Im Begleitschreiben rechtfertigte Ineichen den Augenschein, der natürlich nicht ganz kostenlos war: Das Fehlen detaillierter Angaben in der Anzeige des Gemeindeammanns habe ihn dazu veranlasst. Am 12. August verdankte die Justiz- und Polizeikommission die getroffenen Massnahmen, die sie «für zweckmässig und genügend» hielt. Sie sandte den Betrag von 22 Franken nach Hochdorf und bat um rasche Quittierung. Weil der Verunglückte arm gewesen war, hatte der Staat für die Kosten aufzukommen.
Historische Quellen und offene Fragen
Mit diesem auf den 12. August 1835 datierten Antwortschreiben (das im Staatsarchiv nur als Entwurf vorhanden ist) wurde der Unglücksfall des 16-jährigen Kaspar Wili vom Statthalteramt Hochdorf zu den Akten gelegt. Das schmale Dossier gelangte später ins Staatsarchiv Luzern, wo es in den nach Personen geordneten Teil des Aktenbestandes des 19. Jahrhunderts integriert wurde. Die hier wiedergegebenen Fakten zum Verlauf stammen aus diesem Dossier. Gewisse Angaben zum Hintergrund liefert der Liegenschaftskataster von Mosen aus dem Jahre 1836, dazu kommen Gesetzestexte, Staatskalender und die personenbezogenen Forschungen. Zweifellos gibt es noch weitere Unterlagen im Staats- und vielleicht auch im Gemeindearchiv, die uns den Alltag in einem Dörfchen wie Mosen in den 1830er-Jahren erhellen könnten, doch würde eine umfassende Studie den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Dank dem Fleiss der Behörden und der Archivare können wir aber immerhin den Verlauf und die Aufarbeitung eines Unglücksfalls vor über 170 Jahren nachvollziehen. Einige Fragen sind geklärt, mehr Fragen aber werden aufgeworfen. Zum Beispiel: Was bedeutete der unversehene Tod des Burschen für seine Eltern — der Begriff «unversehen» ist dabei durchaus im wörtlichen Sinn gemeint, denn ein Tod ohne Beichte und Sterbesakrament wurde damals von Katholiken als sehr problematisch für das Seelenheil empfunden. Spielte der ökonomische Verlust — der Junge musste als Strumpfweber in Heimarbeit seinen Teil zum spärlichen Einkommen seiner Eltern hinzuverdienen — beim Trauern eine Rolle? Wie gingen seine Kameraden mit dem Unglück um, wie Josef Wili, der vielleicht in einer gewissen jugendlichen Rivalität zu Kaspar gestanden hatte? — Wir wissen es nicht. Die einzige Zeitung im Kanton, der «Eidgenosse» aus Sursee, interessierte sich damals fast nur für parteipolitische Fragen und berichtete nichts über diesen Unglücksfall. Und über solch «weiche» Themen schweigen in der Regel auch die Akten.
Fischer Josef Willi
Josef Willi (1816-1896) war 17-jährig, als er den Ertrinkungstod seines Altersgenossen Kaspar Willi miterlebte. Sein Vater, Johann Willi, focht um 1840 einen langwierigen Prozess gegen den Obersten Franz von Hallwil als Eigentümer des Hallwilersees um die Abgeltung der Streue aus und erhielt 1842 vom Obergericht wegen Beleidigung des Obersten eine Geldbusse von 16 Franken nebst Bezahlung der Gerichtskosten aufgebrummt. Josef Willi selber wurde 1843 vom Bezirksgericht Hitzkirch wegen Beschimpfung der (konservativen) Regierung zu einer Geldbusse nebst öffentlichem Widerruf verurteilt. Im März 1845 machte er den zweiten Freischarenzug mit. Beim Verhör versuchte er, die Verantwortung auf Gemeindeammann Kaspar Willi zu schieben: Dieser habe ihm gesagt, wenn er nicht teilnehme, habe er grosse Gefahren zu gewärtigen, wenn er im Kanton Aargau fische. Gleich nach seiner Freilassung im Mai 1845 heiratete er Maria Josefa Furrer; es eilte, denn sechs Wochen später kam Tochter Elisabeth zur Welt. Willi starb am 1. Dezember 1896 in Mosen an Altersschwäche, sein gleichnamiger Sohn überlebte ihn nur um zwei Wochen.
Max Huber, geboren 1958 in Langnau im Wiggertal. Historiker, doktorierte 1990 an der Uni Zürich mit einer Arbeit über die Pressegeschichte des Kantons Luzern. Archivar am Staatsarchiv Luzern seit 1989. Der Kontakt zur «Brattig» kam über Hans Schmid (Aesch) zustande, der den Autor anfragte, ob er nicht im Staatsarchiv einen «Fall» mit Seetaler Bezug aufspüren könnte.