*Alois Hartmann, Rothenburg | aus der «Seetaler Brattig» 2019
Am 9. Januar 1918, vor hundert Jahren, starb Josef Hartmann, der Briefträger in Ermensee, mein Onkel. Er starb als Füsilier der 4. Kompagnie, Bataillon 43. In der Familie hielt sich immer die Meinung, er sei an der «Spanischen Grippe» gestorben, die damals unzählige Menschen hinwegraffte. Doch war es wirklich diese Grippe, die zu seinem Tode im Militärlazarett führte? Wir wissen es nicht. Denn in allen Studien und Berichten zu dieser Seuche oder Pest oder wie immer die Katastrophe genannt wurde und wird, gilt der amerikanische Armeekoch Albert Gitchell im Bundesstaat Kansas als erstes Opfer der Grippe. Er starb am 4. März 1918 – zwei Monate nach Josefs Tod.
«Von einem ziemlich gutartigen Charakter»
Müssig, darüber zu streiten, was nun wirklich zum Tod meines Onkels geführt hat. Vielleicht war es irgendeine Krankheit, vielleicht aber doch ein früher Fall dieser eigenartigen Grippe, deren Ursache viele Jahre im Dunkeln lag. Anfänglich wurde sie als harmlos bezeichnet. In Beromünster schrieb im Juli 1918 der Arzt Edmund Müller in sein Tagebuch, die «Spanische Krankheit» sei ungefährlich. Und noch im November des gleichen Jahres glaubte er zu wissen: «Einsichtige und vernünftige Menschen bestehen die Krankheit gut. Nur wer sich zu spät ins Bett legt und zu früh aufsteht, unterliegt ihr.»
Die Behörden liessen verlauten, die Grippe sei von einem «ziemlich gutartigen Charakter». Selbst die Armeeführung war überfordert, als sich die Epidemie immer mehr ausbreitete. Noch immer war Krieg; erst Mitte November 1918 ging er zu Ende. Die Berichte aus jenen Tagen zeigen, wie unzweckmässig viele Massnahmen waren und wie ungenügend die Betroffenen betreut wurden. Das gilt fürs Militär wie für private Einrichtungen, vor allem Hotels und Restaurants, die den Vorschriften des neuen Wirtschaftsgesetzes aus dem Jahre 1910 oft überhaupt nicht entsprachen. Auf eine Epidemie solchen Ausmasses war schlicht niemand gefasst noch vorbereitet, weder bei uns noch irgendwo. Auch im Ausbildungscamp von Albert Gitchell nicht. Nach ihm erlitten im gleichen Camp 38 Rekruten den Grippetod, und es gab allein dort Hunderte von Krankmeldungen.
Der König von Spanien gab ihr den Namen
«Spanische Grippe» nannte man die Krankheit erst ab dem 27. Mai 1918. An diesem Tag wurde bekannt, in Spanien sei der König an der Grippe erkrankt. Einen Monat später war der Begriff Allgemeingut. Doch mit Spanien hatte die Epidemie nichts zu tun. Noch war längst nicht geklärt, woher sie stammte. Erst Jahrzehnte später wurde der entscheidende Virus entdeckt, und noch später wurde erkannt, dass er vor allem durch bestimmte Flöhe und Läuse verbreitet werden kann. Weltweit! Darum auch dieser unglaubliche «Siegeszug» des Grippevirus, der bis ins Jahr 1919 hinein anhielt und zu Beginn des Jahres 1920 nochmals wirksam wurde. Allein in der Schweiz fielen ihm gegen 25’000 Menschen zum Opfer, weltweit dürften es über 50 Millionen gewesen sein. Mehr als in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zusammen!
Trotz dieses gewaltigen Ausmasses blieb die «Spanische Grippe» nicht wirklich im Gedächtnis der Menschen haften. Es wurde nirgends eine «Pestkapelle» errichtet, wie früher bei solchen Ereignissen üblich, auch keine Gedenktafeln angebracht. Nachfragen bei Privaten führten zu keinem Ergebnis. Selbst in Gemeindearchiven finden sich keine Hinweise, wie eine Umfrage und ein persönlicher Blick in die Gemeinderatsprotokolle von Hochdorf und Aesch ergaben. Mussten sich die Gemeinderäte nie damit befassen? Wurde das alles nebenbei erledigt? In Aesch findet sich immerhin Ende 1918 eine Bemerkung des Gemeindeschreibers: Trotz der auf der ganzen Welt wütenden Grippeepidemie seien ihr in Aesch «sozusagen keine Menschen zum Opfer geworden».
Anderswo aber schon! Meldungen wie jene vom 2. November 1918 im «Hochdorfer Anzeiger» finden sich jetzt immer wieder. Da heisst es: «Die Grippe schreitet unheimlich rasch durch Stadt und Land und wirft alles nieder aufs Krankenlager. Heute Nachmittag ist ihr schon wieder ein blühendes, junges Menschenleben zum Opfer gefallen: Josef Anderhub, Baugeschäft Ligschwil. Ein paar Tage Kranksein hatten genügt, ein zukunftsfrohes Leben zu knicken. Er ruhe in Frieden.»
Den Aufzeichnungen des kantonalen Sanitätsrates ist zu entnehmen, dass 1918 kantonsweit an die 38’000 Erkrankte gemeldet wurden, allein 10’000 in der Stadt. Die Spitze lag eindeutig in den Monaten Oktober bis Dezember. Vom 3. bis 9. November 1918 gab es In Hochdorf 585 Grippekranke. Eine neue, aber bedeutend geringere Grippewelle folgte im Vorfrühling 1919, eine dritte, noch kleinere in den ersten Wochen des Jahres 1920.
Stark betroffene Armee
Einen nicht unbedeutenden Anteil an der Zahl der Toten hatte die Armee zu verzeichnen. Tausende von Wehrmännern standen in Vaterlands Diensten. Selbst nach Kriegsende im November 1918 gab es für viele noch kein Abtreten, weil im Gefolge des Landesstreiks einzelne Verbände erneut unter die Fahne gerufen wurden, vor allem Luzerner Truppen, die als besonders regierungstreu galten – und es auch waren! Die damit notwendige Ansammlung von Menschen schuf ein erhöhtes Risiko. Aus dem Seetal wurden für die Monate Oktober bis Dezember 1918 folgende Todesfälle gemeldet: Die Füsiliere Josef Weber von Hohenrain, Johann Winkler von Hitzkirch, Karl Rogger von Hohenrain, Paul Trüeb von Schongau und Georg Rüttimann von Hochdorf sowie Dragoner Alois Widmer von Rain.
Als die Gefährlichkeit der Grippe endlich allgemein erkannt wurde, reagierten die Behörden mit einer Vielzahl von Massnahmen: Verbot von Ansammlungen, Märkten und Tanzveranstaltungen. Gottesdienste, so wurde verordnet, seien «tunlichst» zu kürzen, der Gesang in der Kirche sei einzustellen, die Räume müssten immer wieder gelüftet werden, Erkrankte hätten Kontakte zu meiden, Ärzte neue Fälle zu melden, Arbeitsräume seien regelmässig zu desinfizieren usw. Je nach Entwicklung wurden die Anordnungen verschärft oder gelockert. 1920 bildete die Fasnacht ein Problem. Man wollte sie dem Volk nicht vorenthalten, weil dieses sonst zu sehr enttäuscht (!) wäre, wie der kantonale Sanitätsrat schrieb.
«Wie du vielleicht schon durch die Zeitung vernommen hast, herrscht in unserer Gemeinde seit einigen Wochen die Grippe wieder ziemlich stark. Viele Höfe und Häuser sind von der Krankheit verseucht. Die Zahl der Grippe-Kranken schwankt immer so zwischen 30 und 90. Schon mehrere Fälle sind tödlich verlaufen. Auch in unserem Haus ist dieser unheimliche Gast eingekehrt. Vater, Mutter und die drei Geschwister liegen krank darnieder. Nur noch ich und eine Schwester sind verschont geblieben.»
Josef Sager, Schumacher in Rothenburg, in einem Brief an seinen Bruder in der Fremde (18. Dezember 1918)
Gepflegt wurden die Kranken in Notspitälern wie in Hochdorf, oft zu Hause von Angehörigen der Samaritervereine. Aber auch unter den Pflegenden gab es Tote. Am Tag der heiligen Barbara 1918 starb in Hochdorf die Wärterin Babette Strässler. Eine andere Todesmeldung berührte die Menschen im Seetal in besonderer Weise: der Tod von Marie-Gabrielle von Pfyffer-Heidegg, einer jungen Frau von hohem Ansehen, weil von «schlichter Natürlichkeit», wie es im Protokoll des Frauenvereins Hitzkirch heisst, eine «für alles Gute und Schöne freudig begeisterte Mitarbeiterin». Sie war ausgebildete Krankenschwester und stand vielen kranken, armen und notleidenden Menschen bei.
Die ohnehin schwierige Zeit der Grippe brachte noch weiteres Unheil ins Tal: die Maul- und Klauenseuche. Vor allem im Sommer 1920 brach sie in der Talmitte voll durch. Allein in Hochdorf fielen ihr Ende August innerhalb von acht Tagen 125 Tiere zum Opfer.
Wie aber stand es mit den Kosten, die die Grippe verursachte? Der Bund sah eine Subvention der Krankenkassen für Sonderauslagen vor und leistete an die «tatsächlichen Reinausgaben» der Kantone und Gemeinden einen Beitrag von 50 Prozent. Entsprechend fielen die Beiträge unterschiedlich aus: Ballwil bekam 47, Emmen 573, Hochdorf 1’761 und Rothenburg wegen eines Sonderfalls 5’868 Franken usw.
In einer Hinsicht hatte die Spanische Grippe heilsame Auswirkungen: Dem Gesundheitsdienst wurde allmählich mehr Aufmerksamkeit zuteil. Die Forschung wurde verstärkt, viele Einrichtungen ausgebaut oder neu geschaffen. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge bekam einen Namen, den sie verdiente.
*Alois Hartmann (geboren 1936) wuchs in Altwis auf und war zeitlebens politisch und journalistisch tätig, in Bern und Luzern, u.a. als Chefredaktor des „Vaterland“. Vor zwei Jahren veröffentlichte er die «Chronik Altwis 1900–1999».