Der Stammtisch in der damaligen «Post», wie ihn Brattig-Autor Robert Geisseler für die Ausgabe 1979 beschrieb. Er ist – im gelben Kreis – selbst auf dem Bild zu sehen.

*Robert Geisseler, Hochdorf

Der Amtshauptort Hochdorf stellt sich in der ersten Ausgabe der «Seetaler Brattig» von der fröhlichen Seite vor.

Es steht irgendwo geschrieben, der Stammtisch sei eine typisch schweizerische Erfindung. Er besitze das Schweizer Bürgerrecht seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Ob dies richtig ist, wollen wir hier nicht näher untersuchen. Die Hauptsache ist, dass er existiert. Er hat sich durchgesetzt, ohne Heimatschutz, ohne Denkmalpflege, ohne Subventionen. Wenn er nicht existieren würde, müsste man ihn erfinden. Er gehört in die Landschaft, zum Inventar einer Ortschaft.

Wo finden wir ihn, den Stammtisch, dieses magische Rund? In der Stadt steht er in den Quartierwirtschaften. Auf der Landschaft hat er nach einem Gesetz sein Daheim in jeder Dorfwirtschaft. Er präsentiert sich als runder Tisch an der exponiertesten Stelle der Gaststube. Oder vielleicht ist es der viereckige Wirtstisch «hinter dem Wändli».

Wer fühlt sich vom Stammtisch angezogen? Mit an Sicherheit grenzender Möglichkeit treffen die Stammgäste ein: Metzger, Baumeister, Fabrikant, Advokat, Bäcker, Bierfuhrmann, Richter, Sportfischer, Kanzleibeamter, Gemeinderat, Bienenzüchter, Grossrat, Dachdecker (oder Giebelforscher), Buchdrucker, Schwingklubpräsident, Ingenieur, Arzt, Mühlenbesitzer, Postbeamter, Rentner, Küfer, Wagner, Sattler, Landwirt, Lehrer usw. Ein buntes dörfliches Abbild. Ein typischer Querschnitt durch die ganze (männliche) Bürgerschaft. Der Titel oder die Höhe des Bankkontos sind nicht gefragt. Es zählt und zahlt der Mensch.

Zwischen 5 und 7 Uhr abends rücken die Gäste an. Der Stammtisch erlebt sein Hoch. Der Gast gibt ihm die Ehre. Nicht nur um des Durstes willen. Der Stammgast sucht und findet das Gespräch. Nach strenger Tagesarbeit sucht er beim Abendschoppen Ruhe, Behaglichkeit, Entspannung. Am Stammtisch gibt es keine vorfabrizierte Diskussion. Für das Niveau der Unterhaltung und das Stimmungsbarometer ist jeder Gast mitverantwortlich, keiner darf vorprellen.

Natürlich gibt es zweierlei Typen: Solche, die sich gerne allein reden hören und jene, die ihre Ohren spitzen. Die letzteren zählen sich zu den Psychologen oder Philosophen. Nicht selten werden kommunale, politische oder weltanschauliche «Sträusse» ausgefochten. Mit Vehemenz und Hartnäckigkeit.

Diesem «Unter-sich-sein» und «Unter sich-ausreden» werden übrigens von hoher Warte aus bedeutende Erholungswerte zugemessen. Das oberste Prinzip am Stammtisch ist (wie beim Nebelspalter): Pflege eines gesunden Humors. Gefragt sind: Geselligkeit und Fröhlichkeit. Am Stammtisch: keine Spielverderber, keine Verleumdung, keine Zoterei, keine bösen Zungen! Ein französischer Philosoph der Gastronomie sagte: «Alle grossen politischen Ereignisse sind beim Stammtisch ausgedacht, vorbereitet und beschlossen worden.

Das Geplauder am Stammtisch soll nicht unbedingt die politischen Leidenschaften schüren. Der Gedankenaustausch soll wirken, soll anregen und neue Ideen zutage fördern. Nicht jede Idee, die vom Stammtisch stammt, ist eine Bieridee.

In der Tat: Stammtische erfüllen (fast) eine wichtige öffentliche Funktion. Sie dienen der Meinungsbildung, fördern die zwischenmenschlichen Beziehungen, befürworten die echte Menschlichkeit in der Gesellschaft und das Engagement in der Gemeinschaft. Nicht umsonst hat der Stammtisch die bundesrätliche Absegnung gefunden. Bundesrat Willi Ritschard sprach an der Delegiertenversammlung1977 des Schweizerischen Wirteverbands über die wichtige soziologische Bedeutung des Treffs am Stammtisch.

Jene fast mittelalterlichen Methoden vor rund 40 und mehr Jahren im Kanton Luzern, als die «Roten» zwei Monate vor den Maiwahlen nicht mehr in die «schwarze» Wirtschaft an den Stammtisch gingen und die «Schwarzen» die «rote» Beiz boykottierten, sind vorbei. Wer weiss: Vielleicht hat ausgerechnet der Stammtisch zu dieser Milderung und Lockerung der politischen Leidenschaft beigesteuert?

Was meint der Gastwirt zum Stammtisch-Thema? «In meiner Wirtschaft gibt es keine Kunden, nur Gäste. Jeder Gast, auch jener mit einem einzigen Bier, soll sich bei mir als König fühlen.»

Das Bild des Stammtisches aus Hochdorf hat selbstredend Zufälligkeits-Charakter. Nicht an jedem Abend findet sich diese «Galerie der Stammtisch-Freunde» zusammen. Es gibt kein starres Schema. Die Wirtschaft wechselt, die Gäste wechseln. Der eine Gast erscheint vielleicht einmal pro Woche, der andere gönnt sich zwei- bis dreimal einen Abendschoppen, je nach Lust und Laune. Der Stammtisch kann übrigens seine «Lebensaufgabe» nur dann erfüllen, wenn in mässigen Mengen konsumiert wird. Folge: keine Zecherei, kein Überborden. Es darf niemand zu Schaden kommen. Und wer es nicht wissen sollte: «Alkoholfreie Stammgäste» sind selbstverständlich auch geduldet.

*Robert Geisseler (1911–2001) wurde anfangs 1930 Kanzlist auf dem Statthalteramt Hochdorf, später Substitut des Amtsschreibcr und 1943 selbst Amtssschreiber. 1958 wurde er als Nachfolger von Candid Sigrist zum zum Amtsstatthalter von Hochdorf gewählt wurde, was er bis zu seiner Pensionierung 1977 blieb. Im Nebenamt betreute er lange Jahre die Redaktion des «Seetaler Boten». Mit seiner Frau Maria Geisseler-Osterwalder lebte Robert Geisseler in Hochdorf, die beiden hatten zwei Kinder.

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