Ein Feuerball über Hämikon: Ludwig Suters Illustration zum Beitrag von Benno Felder in der Ausgabe von 1998. | © Seetaler Brattig

* Benno Felder, Hämikon | aus der «Seetaler Brattig» 1998

«Ach was, betrunken seid ihr, das ist alles!»… Mit schweren Schuhen polterten die Söhne von Josef und Regina Koch nachts um zwei Uhr in das Zimmer ihrer Eltern und lärmten etwas von Feuer am Himmel, von Motorenkrach und von Leuchtstreifen ins Zimmer. Vater Koch mochte um diese Zeit keine schlechten Scherze leiden. Er überlegte sich gerade, ob er seinen Söhnen zeigen müsse, wo der Bartli den Most holt oder ob er sich wieder die Decke über die Ohren ziehen solle. Da gab ein lautes Bersten, gefolgt von einem furchterregenden Knall, den beiden Söhnen recht. Was war passiert?

Es war die Nacht vom 27. auf den 28. April 1944. Der Hämiker Käsermeister hatte an jenem Abend die Mitglieder der Käsereigenossenschaft zum damals jährlich stattfindenden Nachtessen geladen, denn das gehörte sich so! Fast vollzählig waren die Bauern erschienen, ging es doch bei diesem Abend nicht nur um das leibliche Wohl, sondern auch um die gemütliche Runde unter gleichgesinnten Bauersleuten. So manch einer war froh, in dieser schweren Zeit sich bei einem deftigen Kaffee in übermütiger Runde von den Sorgen des Alltags ablenken zu lassen. Und so kam es, dass die beiden Gebrüder Koch nach Abschluss des Chäsi-Essens kurz vor zwei Uhr nachts den Weg in den Chellenrank unter die Füsse nahmen.

Und plötzlich fing das Flugzeug Feuer

Auf einmal störte ein immer lauter werdendes Motorengeräusch die Stille der Nacht. Eigentlich war das damals nichts Aussergewöhnliches, kam es doch ab und zu vor, dass irgendwelche Flugzeuge der Alliierten oder der Achsenmächte verbotenerweise «Helvetias Reich» überflogen. Doch dieses Mal war der Lärm bedrohlich nahe. Am Himmel vermochte man zu erkennen, dass ein Flugzeug, flankiert von Geschützlärm, fortlaufend einen Kreis über Hämikon, Altwis und Hitzkirch zog.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Das Flugzeug fing Feuer und schlug mit ohrenbetäubendem Lärm hinter der Kurve zwischen Hämikon und Müswangen auf. Die Maschinenteile des englischen Lancaster-Bombers rammten sich in den Boden. Ein brennender Flügel schmetterte von der Wucht des Aufpralls gegen die Scheune der Familie Notter und drohte dort, einen Brand zu entfachen. Der Mühlebach, durchtränkt vom ausgelaufenen Treibstoff des dort gelandeten Tanks, entzündete sich und versetzte die schlaftrunkenen Augenzeugen in ein Schaudern.

Fünf Todesopfer

Es waren die Todesminuten von Leslie Cotton, 22, Wachtmeister der königlich-britischen Flugwaffe, Ross Lewis Clark, 21, und John James Eaton, 27, beide ebenfalls Wachtmeister der englischen Streitkraft, dem kanadischen Offizier Robert Burns Ridley, 21, und seinem Landsmann und Wachtmeister Allan Mackay Weir, 21. Sie hatten, wie das damals üblich war, zusammen eine alliierte Geschützmannschaft gebildet. Die Besatzung dieses Lancaster-Bombers bestand angeblich aus sieben Mann. Zwei (laut Zeitungsmeldung drei) von ihnen hatten noch vor dem Aufprall versucht, mit dem Fallschirm das beschädigte Flugzeug zu verlassen. Einer wurde am folgenden Morgen bei Altwis tot unter einem Baum gefunden. Sein Fallschirm hatte sich in den Ästen verfangen. Ein Überlebender stellte sich mit schweren Brustverletzungen in Ermensee der Polizei.

Friedrichshafen bombardiert

Zusammen waren sie losgeflogen, um das Hauptangriffsziel Friedrichshafen und die Dornierwerke in Manzell zu bombardieren. Es war eine der furchtbarsten Nächte für die Bevölkerung Süddeutschlands. In nahezu einer Nacht fiel Friedrichshafen in Schutt und Asche. Die Wucht der Detonationen war derart stark, dass im zwölf Kilometer entfernten Romanshorn geschlossene Türen aufsprangen, Fensterläden ausgehängt und grosse, durch Rollladen scheinbar gesicherte Schaufenstervitrinen in Scherben gingen.

Die bisher vom Krieg weitgehend verschonten Eidgenossen waren von den fürchterlichsten Bombardements tief beeindruckt. Die LNN schrieben am 29. April 1944: «Denkt man heute an die ersten Angriffe auf das deutsche Bodenseeufer zurück, so muten sie wie Kleinigkeiten an. Im Verlaufe der Zeit hat sich die Technik und Wucht der Angriffe vervielfacht. Schien schon der Tagesangriff vom letzten Montag alles bisher Erlebte und Beobachtete in den Schatten zu stellen, so muss man heute feststellen, dass der Angriff in der vorletzten Nacht Ausmasse und Formen angenommen hat, die allen, welche unfreiwillig Augen- und Ohrenzeugen dieses Infernos waren, zeitlebens als Stunde des Entsetzens in Erinnerung bleiben werden.»

Aber eben, dieses Mal bekamen auch die Feuerwehr Hämikon, die Ortswehr Müswangen und ein Räumungsdetachement der Rekrutenschule Luzern einen hautnahen Eindruck von der Gewalt und der Zerstörungswucht, die über Europa hinweggefegt war. Mancher Hämiker hat sich vor dem Eintreffen des Absperrdienstes noch ein «explosives Andenken» an diese denkwürdige Nacht gesichert. Die vertrauensvollsten Helfer wurden zum Vergraben der Munition eingesetzt. Unter einem Eid hatten diese zu geloben, dass sie Zeit ihres Lebens den Entsorgungsort der Munition nicht preisgeben werden.

Die Leichen der fünf Flieger wurden nach Hitzkirch überführt und dort in der Kapelle auf dem Friedhof aufgebahrt. An der Rückwand hing eine Schweizerfahne. Unzählige Frauenhände gruppierten Blumensträusse um die Särge. Eine militärische Ehrenwache mit Gewehr und Helm postierte sich mit ernstem Gesicht vor der Kapelle, und die Bevölkerung besprengte die Särge der im Dienst für ihr Vaterland Gefallenen mit Weihwasser.

Zehn Abschüsse

Mit grosser Andacht nahmen die Seetaler von den jungen Männern Abschied. Wenigen war aber bewusst, dass die Schweizer Flab dieses Flugzeug abgeschossen hatte. Dem Bericht des Kommandanten der Flieger- und Flugabwehrtruppen über den Aktivdienst, Oberstdivisionär Rhiner, kann man entnehmen, dass während des ganzen Krieges bei gesamthaft gezählten 6501 Luftraumverletzungen aller beteiligter Kriegsmächte nur zehn Flugzeuge durch unsere Flab abgeschossen werden konnten. Die Eindrücke und Ängste, welche zu jener Zeit auf den Bewohnern unseres Tals lasteten, sind heute nur noch schwer nachvollziehbar.

Seit dem vergangenen Jahr versuchen wir Schweizer eindringlich, mit der Aufarbeitung der Kriegsgeschichte Licht in die Vergangenheit zu bringen. Die historischen Fakten können dazu beitragen, sich in die vielschichtige Problematik der Kriegsjahre einzufühlen. Eine Hilfe beim Erkennen der damaligen Gemütslage mag im Zeitungsartikel über dieses Unglück liegen, welcher in einer derart andächtigen Poesie abgefasst wurde, dass ich diesen unverändert wiedergeben möchte:

«Über der Gegend von Hitzkirch und Müswangen liegt ein stiller Ernst. Noch nie hat die Bevölkerung den grausamen Krieg so unmittelbar miterlebt. Die fünf, die fern ihrer Heimat den Tod gefunden haben, treffen bei ihnen echtes Mitleid. Über den Dörfern schwebt der versöhnliche Geist, der bei allen Katastrophen die Menschheit zu beseelen pflegt, und die heilige Scheu vor dem Tode erschliesst die Herzen.»

Benno Felder (geboren 1967) ist Gemeindeschreiber und Notar. Er war dies in verschiedenen (auch ehemaligen) Seetaler Gemeinden (Hämikon 1993–2001, Retschwil 1995–2001), in Sempach (2001–2003) sowie in Hildisrieden (2003–2008). Seit 2009 ist er Gemeindeschreiber von Hitzkirch. Benno Felder lebt in Hämikon, ist verheiratet und Vater von einem Sohn (1992) und drei Töchtern (1994, 1996, 2000).

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