Hans Schmids Beitrag in der «Seetaler Brattig» 2015 mit «Rennfahrer» Flöömäli, wie ihn Zeichner Ludwig Suter sah. | © Seetaler Brattig

*Hans Schmid, Aesch | aus der «Seetaler» Brattig 2015

Eigentlich hiess er Hans Limacher. Kaum der Schule entlassen, trat er seine erste Stelle als Knecht beim Aescher Korporationspräsidenten an. «Knecht» war damals die Bezeichnung für einen landwirtschaftlichen Angestellten, der überall auf dem Hof eingesetzt werden konnte, sei dies als Melker, Karrer oder als einfacher Landarbeiter. Hans war ein besonderer Bursche, lebhaft und flink, intelligent, gelenkig. Er verfügte über gute Umgangsformen beim Vieh und bei den Leuten. Er «chnübelte» an verrosteten Maschinen herum und brachte sie wieder zum Laufen. Im Herbst kletterte er behände auf die hohen Theilersbirnbäume, waghalsig trat er in das breit ausladende Geäst hinaus und rüttelte mit einem Hakenstecken die letzte Birne zu Boden. «Pass auf! », riefen wir ihm jeweils zu. Mit seinem Schalk und der Freude am Schabernack stiess er bei seinem Meister, der nur ein paar Jahre älter war, auf volles Verständnis – ja, sogar auf «geistige Mittäterschaft».

Flöömäli

Hans Limacher wurde einmal gefragt, welchen Beruf er habe. Schelmisch antwortete er, er sei ein Flöömäli (Flohmelker), also ein Melker mit nur ihm angeborenen Talenten. Von da an blieb dieser Name an ihm hängen – und Hans ärgerte sich nie darüber. Er war sogar ein wenig stolz, dass er über einen Zunamen verfügte, denn einen solchen hatten immer weniger Zeitgenossen.

Das Rundstreckenrennen um den Lindenberg

Dorfübergreifende Sportanlässe, wie sie heute üblich sind, gab es vor dem Krieg nur wenige. Man war nicht mobil, hatte weniger freie Zeit, und wenn schon, dann wurde im örtlichen Verein geturnt oder Fussball gespielt. Die Springkonkurrenzen der Dragoner und Schützenfeste bildeten da eine Ausnahme, ebenso – und das war ein selten wichtiges Ereignis – das alljährliche Rundstreckenrennen um den Lindenberg. Die Bevölkerung stand dicht gedrängt am Strassenrand und feuerte die Radler zu Höchstleistungen an. Die zu fahrende Strecke war immer die gleiche, abwärts durchs Seetal, aufwärts durchs Freiamt, teils auf guten, teils auf Naturstrassen, und zwar mit zwei Durchgängen. Sportdress mit Reklamen rund um Bauch und Waden waren keine zu sehen, gefahren wurde in Kleidern, die den Radlern gerade zur Verfügung standen.

Flöömäli wäre gerne auch einmal mitgefahren. Doch der Start war sonntags um zwölf, und um halb fünf musste er wieder im Stall sein. Flöömäli und sein Meister waren auf Hilfe angewiesen, auf den im Nachbarhaus wohnenden Sekundarschüler Alois Koch, einen durchtriebenen Lausbuben. Man war sich einig: Eine inoffizielle Teilnahme musste möglich sein.

Flöömäli — die grosse Überraschung!

Der Vater des Lausbuben war einer der fünf Aescher, die damals – 1935 – ein Auto besassen. Das Vehikel verfügte über eine Hupe, die nicht an der Elektronik des Wagens angeschlossen war. Sie war aussen angeschraubt und musste bei heruntergelassener Scheibe mit kräftiger Hand gedrückt werden. Alois, der Lausbub, montierte am Vorabend des Rennens die Hupe ab und befestigte sie an Flöömälis Velo. Sein Vater bemerkte dies nicht. Flöömäli knüpfte einen Kalbermaulkorb mit einer Bierflasche vorn über die Lenkstange. Den Offiziellen wurde in Hochdorf allerdings Heliomalt mit auf die Reise gegeben. Flöömäli setzte sich seine legendäre Tätschkappe auf den Kopf und fuhr zu gegebener Zeit nach Altwis. Gegenüber der Bäckerei Höltschi setzte er sich an den Strassenrand und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Von hier aus hatte er freie Sicht bis zum Hitzkircher Gerbebach. Da tauchten plötzlich dunkle Punkte am Horizont auf: die Velorenner. Flöömäli drehte seine Tätschkappe um 180 Grad, er wollte sich damit ein aerodynamischeres Profil geben, wartete, bis die Karawane näher kam und fuhr ihr mit ungefähr einem Kilometer Abstand voraus. Wegen der kerzengeraden Strecke zwischen Altwis und Aesch hatte er das Rennen stets im Auge und im Griff. Vor der Einfahrt ins Dorf drückte Flöömäli dreimal die Hupe – heiserige und kratzende Töne kündeten das nahende Feld an. Flöömäli trat wacker in die Pedalen, mit starrem Gesicht und grusslos fegte er an uns vorüber.

Tatsächlich, wir hatten uns nicht getäuscht! Es war der Flöömäli, der als Erster durchs Dorf raste! Bis wir begriffen hatten, was das heissen sollte, kamen mit respektablem Abstand auch die übrigen Fahrer an, von uns kaum noch wahrgenommen. Wer hätte dem Flöömäli so etwas zugetraut? In ungefähr zwei Stunden würde der Tross zum zweiten Mal durchs Dorf fahren. Ob Flöömäli dann noch immer Spitzenreiter war?

An der Kantonsgrenze gegen Fahrwangen scherte Flöömäli nach links aus, liess den Tross an sich vorbeiradeln. Dann fuhr er gemächlich hinter dem Tiefenbach hinunter an den See und auf der Moosstrasse Richtung Unteräsch. Er hatte genügend Zeit und konnte sich am See etwas ausruhen, um mit neuen Kräften zur zweiten Etappe anzutreten.

Wieder wartete er in Altwis, wieder meldete er sich mit seiner Autohupe an und wieder war er Erster. Unser Adrenalinspiegel war sprunghaft angestiegen, das Grölen und Jauchzen, das Klatschen und Beifall-Rufen war viel stärker als bei der ersten Durchfahrt, denn in der Zwischenzeit hatte sich der erste Durchgang im Dorf herumgesprochen. Alles war auf den Beinen und zur zweiten Triumphfahrt an die Kantonsstrasse geeilt, sogar der ehrwürdige Pfarrer Andreas Vetter. Beim Zollhaus, ausserhalb des Dorfes, liess Flöömäli die schwitzenden Kollegen vorfahren, machte rechtsumkehrt; würdig, locker und grinsend kehrte er ins Dorf zurück – wo wir ihm stürmisch zujubelten. Flöömäli, der immer gut gelaunte und listige Zeitgenosse, war zum eigentlichen Dorfhelden geworden. Nicht nur wir Buben, nein, auch die Alten waren stolz auf ihn. Hätte Flöömäli damals für einen Sitz im Gemeinderat kandidiert, er wäre bestimmt gewählt worden.

Hans Schmid (geboren 1927) war zusammen mit Adolf Bucheli Gründer des Comenius-Verlags, in dem die «Seetaler Brattig» im Herbst 1978 (für das Jahr 1979) erstmals erschien. Schmid, von Beruf Lehrer, war lange deren Schreiber (Redaktor) sowie in seiner Gemeinde Mitglied des Gemeinderats.

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