Das Haus Nr. 68 im Ballwiler Weiler Gibelflüh, in dem Johann Melliger 1907 eine Wirtschaft einrichten wollte, gezeichnet von Ludwig Suter in der «Seetaler Brattig» 1998. | © Seetaler Brattig

*Joseph Bühlmann, Ballwil

In Gibelflüh soll im 17. Jahrhundert eine Wirtschaft bestanden haben, seither gab es kein Wirtshaus mehr im Dörfchen in der Gemeinde Ballwil. Zur Zeit der französischen Revolution wurde auf dem Hof Fuhr bei Gibelflüh gewirtet, das Patent aber im Jahre 1800 auf höchste Weisung vom Innenminister der Helvetischen Republik in Aarau verweigert. 1907/08 wurde ebenfalls von höchster Stelle eine Wirtschaftskonzession in Gibelflüh abgelehnt.

Dem Band 1 des Schweizerischen Bundesblattes von 1908 (S. 179–285) kann entnommen werden, dass Johann Melliger am 25. Juli 1907 an den Regierungsrat des Kantons Luzern das Gesuch gestellt hat, er möge ihm das Patent zum Betrieb einer Wirtschaft in seinem Hause Nr. 68 in Gibelflüh erteilen. Das Haus ist heute im Besitz der Familie Hans und Helen Moos-Gehrig. Gestützt auf ablehnende Gutachten des Gemeinderates von Ballwil und des Statthalteramtes Hochdorf wies der Regierungsrat das Gesuch am 10. August ab, mit der Begründung, dass die für den Betrieb der Wirtschaft in Aussicht genommenen Lokale den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprächen und kein Bedürfnis bestehe für die Errichtung einer weiteren Wirtschaft in der Gemeinde Ballwil.

 Rekurs beim Bundesrat

Gegen den Entscheid des Regierungsrates legte Johann Melliger am 10. Oktober 1907 Rekurs beim Bundesrat ein. Er drückte sein Befremden aus, dass die für eine Wirtschaft in Frage kommenden Lokale vom Regierungsrat nie besichtigt worden seien und das Statthalteramt Hochdorf sowie der Gemeinderat von Ballwil – er bestand aus Alois Bühlmann, Josef Fleischli und Xaver Buck – bei ihm sich nie über die Lokale erkundigt hätten. Sie entsprächen aber den dortigen Bedürfnissen. Mehr als hundert Wirtschaften im Kanton seien hinsichtlich der Lokaleinrichtungen schlimmer dran. Auch bestehe dort für eine Wirtschaft wirklich ein Bedürfnis, wie auch aus Bescheinigungen der Bürger von Ballwil hervorgehe, die «nicht etwa von Knechten und anderem Gesindel, sondern von Landwirten der Gemeinde» stammten. Auch von der geographischen Lage her habe eine Wirtschaft Berechtigung, da dort die Strassen von Ballwil, Eschenbach, Inwil, die ins Freiamt und zu diesen Ortschaften führten, zusammenkämen, der Verkehr gehe über Gibelflüh. In der Gegend herrsche ziemlich reger Verkehr, wie überall an den Kantonsgrenzen, besonders gross sei der Fuhrwerkverkehr. Die nächste Wirtschaft sei etwa eine halbe Stunde weit weg. Die Fuhrleute hätten gewöhnlich an der Grenze Geschäfte, und nun könnten sie dieselben nirgends ruhiger erledigen als im Freien. Auch glaubten die Einwohner von Gibelflüh ein Recht zu haben auf eine Wirtschaft, denn, wenn sie einen Schoppen trinken wollten, müssten sie nach Ballwil oder Eschenbach.

 Weitere Abklärungen

Am 21. Oktober 1907 forderte Bundesrat Ernst Brenner vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement in Bern den Luzerner Regierungsrat auf, allfällige Gegenbemerkungen zum Rekurs einzureichen. Hierauf ersuchte das Luzerner Staatswirtschaftsdepartement das Statthalteramt von Hochdorf um nähere Angaben über Grösse, Lage und Beschaffenheit der Lokalitäten, die Melliger für Wirtschaftszwecke umändern möchte, sowie über den Verkehr in Gibelflüh und das Bedürfnis einer Wirtschaft. Amtsstatthalter Jakob Sigrist fand die Lage des Hauses für einen Wirtschaftsbetrieb «nicht gerade ungeeignet», er beanstandete aber die zu geringe Höhe der vorgesehenen zwei Zimmer, die als gemeinsames Wirtslokal dienen sollten. Er konnte die Gewährung einer Konzession an Melliger «absolut nicht empfehlen».

Der Regierungsrat übernahm in seinem Schreiben vom 9. November die Darlegungen des Amtsstatthalters und empfahl dem Bundesrat die Abweisung des Rekurses. Der Regierungsrat schrieb unter anderem:

Hochgeachteter Herr Bundesrat!
Sie haben uns einen staatsrechtlichen Rekurs des Johann Melliger in Ballwil gegen unsern Entscheid vom 10. August abhin betreffend die Verweigerung eines Wirtschaftspatentes zur Vernehmlassung übermittelt.
Der Rekurrent macht geltend, dass die Motivierung unseres Entscheides nicht zutreffend sei; die Lokalitäten seien genügend und das Bedürfnis für die Errichtung einer neuen Wirtschaft bestehe tatsächlich.
Wir können uns der Auffassung des Rekurrenten nicht anschliessen und beantragen die Abweisung des Rekurses.

Der Gemeinderat von Ballwil hat in seinem Gutachten vom 3. August 1907 ausdrücklich bemerkt, dass die Lokalitäten der gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen. Ein seither durch das Statthalteramt Hochdorf vorgenommener Untersuch hat ergeben, dass Joh. Melliger zwei neben einander befindliche Zimmer seines Wohnhauses zu einem Wirtslokal vereinigen möchte. Die beiden Zimmer haben zusammen folgende Ausdehnung: Länge 8,90 m, Breite 4,50 m, Höhe 2,15 m. Das Lokal würde fünf Fenster besitzen. Die Höhe ist offenbar eine ungenügende. Nach § 19 des Gesetzes über die Wirtschaften sollen die Wirtsgebäude in einer Lage sich befinden, welche die polizeiliche Beaufsichtigung nicht erschwert. Dieser Anforderung entspricht das Wohnhaus des Rekurrenten nicht. Gibelflüh ist ca. 1/2 Stunde vom Dorf Ballwil entfernt. Die Erfahrung lehrt, dass Wirtschaften in so abgelegener Gegend sehr schwer zu beaufsichtigen sind.
Von ausschlaggebender Bedeutung scheint uns übrigens die Frage zu sein, ob die Errichtung einer neuen Wirtschaft in Gibelflüh einem Bedürfnis entspreche oder nicht. Wir müssen die Frage entschieden verneinen. Die Gemeinde Ballwil hat 805 Einwohner Es bestehen gegenwärtig bereits zwei Wirtschaften. Diese genügen für die Gemeinde vollauf. Gibelflüh ist ein Weiler von 9 Wohnhäusern und 51 Einwohnern. In der Umgegend liegen einzelne Gehöfte. Die Bevölkerung beschäftigt sich ausschliesslich mit Landwirtschaft.
Das Statthalter Amt Hochdorf konstatiert in seinem Berichte vom 4. ds. Mts., dass von einem Verkehr, der die Errichtung einer Wirtschaft in Gibelflüh als ein Bedürfnis erscheinen lassen würde, in keiner Weise gesprochen werden könne. Der Verkehr auf der dortigen Strasse sei ein höchst bescheidener, wie er sich überall im Gebiete der Einzelhofwirtschaft, von Gehöft zu Gehöft, von Weiler zu Weiler gestalte. Die neue Wirtschaft wäre nichts anderes, als für die nächste Umgebung eine weitere Gelegenheit zum Alkoholgenusse. Sie vermöchte sich kaum über das Niveau einer bedenklichen Winkelwirtschaft zu erheben, auch bei aller persönlichen Ehrenhaftigkeit des momentanen Bewerbers.

 Ablehnung durch den Bundesrat

Am 22. November 1907 lehnte der Bundesrat die Beschwerde von Johann Melliger gegen den Luzerner Regierungsrat als unbegründet ab. Er stützte sich dabei auf die oben wiedergegebene Vernehmlassung des Regierungsrates und stellte ebenfalls fest, dass in Gibelflüh von einem grösseren Verkehr keine Rede sein könne und das von Melliger geplante Wirtshaus stets eine Winkelwirtschaft sein und einzig zur unnötigen Vermehrung des Alkoholgenusses beitragen würde. Auch könne gegenüber den entschieden ablehnenden Gutachten der zuständigen Gemeindebehörde und des Statthalteramtes auf die Bescheinigung der Einwohner von Gibelflüh nicht abgestellt werden. Die geringe Einwohnerzahl von Gibelflüh könne die Eröffnung einer Wirtschaft nimmermehr rechtfertigen, und schon ein Blick auf die Karte zeige, dass Gibelflüh kein wichtiger Verkehrsknotenpunkt sei. Da die Eröffnung einer Wirtschaft in einer abgelegenen Häusergruppe dem öffentlichen Wohle zuwiderlaufen würde und das Bedürfnis nach einer Wirtschaft in Gibelflüh nicht bestehe, brauche nicht untersucht zu werden, ob die für die Wirtschaftsbetriebe in Aussicht genommenen Räumlichkeiten den gesetzlichen Anforderungen entsprächen oder nicht. Der Beschluss des Bundesrates ist von Bundespräsident Eduard Müller und Bundeskanzler Ringier unterzeichnet.

Johann Melliger gab sich mit der Ablehnung seiner Beschwerde gegen den Luzerner Regierungsrat durch den Bundesrat nicht geschlagen. Er verfolgte weiter hartnäckig sein Ziel, in Gibelflüh eine Wirtschaft zu eröffnen. Mit einer Eingabe vom 23. Dezember 1907 beschwerte er sich über den Entscheid des Bundesrates bei der Bundesversammlung.

 Der Bundesrat an die Bundesversammlung

Der Bundesrat wies in seinem Bericht an die Bundesversammlung vom 4. Februar 1908 darauf hin, dass Melliger dem Bundesrat vorwerfe, er habe sich der Ansicht der luzernischen Behörden über die Bedürfnisfrage angeschlossen, ohne eigene Prüfung der Umstände. Melliger wandte sich auch gegen eine Beurteilung der Verkehrsverhältnisse in Gibelflüh anhand der Karte. Er führte zudem an, dass er ungleich behandelt worden sei, da man in der bloss 300 Einwohner zählenden Ortschaft Altwis eine zweite Wirtschaft bewilligt habe. Dazu stellte der Luzerner Regierungsrat indessen fest, dass in Altwis nur eine Wirtschaft bestehe. Der Bundesrat verweist zuhanden der Bundesversammlung auf seinen ablehnenden Entscheid vom 22. November 1907 und schreibt, dass er in der Beurteilung der Bedürfnisfrage nur dann von der kantonalen Behörde abweiche, wenn besondere Gründe dafür sprächen, diese lägen hier aber nicht vor. Aus der Karte lasse sich die Art der Besiedlung einer Gegend sowie die Bedeutung der sie durchziehende Strassen sehr wohl Erkennen und ein Schluss auf die Art und Grösse des Verkehrs ziehen: «Wenn nun aus der Karte abzulesen ist, dass es in der Umgebung von Gibelflüh nur zerstreut liegende Einzelhöfe oder kleine Häusergruppen gibt, die mit Gibelflüh entweder gar nicht oder nur durch kleine Strässchen verbunden sind, dass ferner die Strasse zweiter Ordnung von Ballwil über Gibelflüh an die Kantonsgrenze jenseits der Grenze nach Fenkrieden zur Strasse dritter Ordnung wird, so spricht dies offenbar dafür, dass, wie die Luzerner Behörden behaupten, dort nur ein unbedeutender Lokalverkehr herrscht, der die Eröffnung einer Wirtschaft nicht rechtfertigt.» Der Bundesrat stellte der Bundesversammlung den Antrag, die Beschwerde sei als unbegründet abzuweisen.

 Nationalratskommission in Gibelflüh

Die Bundesversammlung veranlasste eigene Erkundigungen. Der Basler Nationalrat Göttisheim teilte dem Luzerner Regierungsrat mit, dass am Dienstag, 12. Mai 1908, vormittags, die Nationalratskommission – sie bestand aus neun Nationalräten – zur Prüfung des Wirtschaftsrekurses einen Augenschein vornehmen werde. Am 30. Juni 1908 schrieb Bundespräsident Brenner der Luzerner Regierung, der Nationalrat habe am 19. Juni und der Ständerat am 26. Juni den Rekurs von Melliger als unbegründet abgewiesen.

Johann Melliger war mit seinem Gesuch gescheitert. Dank ihm mussten der Bundesrat, der Nationalrat und der Ständerat sich mit Gibelflüh befassen, das einzige Mal in der Geschichte des Dörfchens. Johann Melliger von Aristau hatte das Haus in Gibelflüh im Jahre 1900 erworben. Nach seinem Tod 1912 kam es an seine Frau Anna Melliger-Marfurt. Ihre Töchter Anna und Aloisia verkauften die Liegenschaft 1914 an Josef Gehrig-Eberli. Die Gibelflüher waren und sind nicht unglücklich, dass es in ihrem Dörfchen keine Wirtschaft gibt.

*In seinem Nachruf auf den Historiker Joseph Bühlmann (1925–2005) in der Brattig 2006 bezeichnete Hans Moos diesen als «Ballwils wandelndes Gedächtnis». Joseph Bühlmann stellte schon 1948 als Student in einer Sonderbeilage des «Seetaler Boten» die Geschichte der Pfarrei und Gemeinde Ballwil ausführlich dar. Seither liess ihn die Erforschung seiner engeren Heimat nicht mehr los. Für die Brattig schrieb er erstmals für die Ausgabe 1987. Mit Ausnahme von 1994 und 2005 figuriert Bühlmann lückenlos im Autorenverzeichnis. Für die Luzerner Tages- und Lokalzeitungen schrieb er während Jahrzehnten sachkundige Artikel über Ausgrabungen und Denkmalpflege in der Zentralschweiz.

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