Die im Kindbett verstorbene Mutter Lehni im Sarg, neben ihr der trauernde Gatte und Sohn – gezeichnet von Paul Nussbaumer, «Nussbi», in der Brattig 1990. | © 1990 Seetaler Brattig

*Anton E. Müller, Beromünster/Ermensee

Jugend in Ermensee. In der Unterschule lernte man die ersten Haar- und Fettstriche des deutschen Alphabets und quälte sich dann bei der Lehrerin Sofia Hofer mit der Schriftreform ab. Zum Glück hatte sie eine Violine, mit der sie unsere bescheidenen Lieder begleitete. Dann kam die Oberschule mit gehobenerem Wissen, und im Sommer ging man mit Lehrer Egli im Wöögli baden. Am Feldweg duftete die Filipendula, das Spyrkraut oder Mädesüss, das Korn wogte der Ernte entgegen.

Man hatte als Kind jener Tage seine eigene, begrenzte Welt, die gleich wieder so unbegrenzt schien, denn Träume kennen ja keine Grenzen. Die Welt war das Dorf, und auch schon da gab es fernere und weniger bekannte Regionen. Wir konnten stundenlang den Handwerkern zusehen, dem Schuhmacher, dem Schneider, dem Küfer, dem Sattler, dem Schmied, dem Schreiner. Im Sommer sassen wir hoch oben auf den duftenden Heufudern. Am Abend holten wir in der Sennhütte mit einem Kesseli die Milch. An früh eingedunkelten klaren Novemberabenden stand über dem Weg der funkelnde Dom der Sterne vor dem schwarzen Band der Erlosenwälder.

Göttibatzen und Ostermond

Im Brauchtum des Jahres erlebte man sehr gefühlstief den Heiligabend mit Lichterbaum und Gaben, an Neujahr den Göttibatzen, den eigenartig stillen Fridlistag auf dem Wasser, der ganz den Kindern gehörte. An den Winterabenden wurde in der Familie der Rosenkranz gebetet, im Sommer gab es Prozessionen und den Bittgang ums Feld mit Kreuz und Fahne. Erwartungsvolle Hochstimmung herrschte am Karsamstag, wenn man die besten Schuhe auf Hochglanz brachte und die Sonntagskleider bereitlegte. Die Pfarrkirche läutete mit allen Glocken das Osterfest ein, und über dem Lindenberg stieg langsam die grosse honigfarbene Scheibe des Ostermondes auf.

Am stärksten interessierten und beeindruckten uns in diesen frühen Jahren die Realität des Todes und die ungewöhnlichen Zeichen und Vorgänge, die über den täglichen Gang des Lebens hinaus das Dorf bewegten. Es schien uns, dass viel gestorben wurde und immer wieder, je nach Ort und Umstand des Ablebens oder Alters und der Krankheit des zu Tode Gekommenen, verschiedene Formen des Mitgefühls und der Verrichtungen sich äusserten. Wir Kleinen waren in das Geschehen voll Spannung mit einbezogen und lebten, am Ungewöhnlichen ungemein erregt, und mit einer eigenartigen Neugierde mit. Man war ja auch gut genug informiert, denn daheim und in den Nachbarhäusern war das eingetretene Ereignis unter den Grossen das umfassende Gespräch.

Der Schreinerjakob

Wenn jemand zuhause schwer krank lag, ging der Dekan Blum im Chorgewand, voraus der Sigrist mit der Laterne, mit dem Allerheiligsten von der Kapelle in das Haus, um den Kranken zu versehen und ihm die letzte Ölung zu spenden. War es mit ihm zu Ende gegangen, läutete der Sigrist das Endzeichen und ging im Dorf von Haus zu Haus, um das Ableben des Mitbürgers oder der Mitbürgerin anzuzeigen. Am andern Tag war es an uns, dem Schreinerjakob bei der Fertigung des Sarges zuzusehen. Er schnitt nach hergebrachtem Schema die Bretter und nagelte den Totenbaum zusammen. Dann wurde das letzte Gehäuse für den Toten gebeizt, schwarz für die einfacheren Leute, braun, wenn es so gewünscht wurde. Am Sarg wurden Kreuz und andere Symbole aus gestanztem, silbrigem Karton aufgenagelt.

Der Schreinerjakob besorgte auch die Einsargung und leitete am Begräbnismorgen den letzten Dienst beim Abschied des Toten von seinem Haus. Er beugte am Sarg, der auf zwei Stühlen stand, das Knie und betete das Feufi vor, die fünf Vaterunser zu den heiligen fünf Wunden und den Glauben. Er sorgte auch, dass der Totenbaum richtig in den Totenwagen geladen wurde. Dieser war an den Seiten mit Stoff und Quasten schwarz und silbrig ausstaffiert und stand normalerweise im Spritzenhaus. Am Grabkreuz hing ein Kranz, damals noch mit Glas-Chrälleli auf Draht kunstreich geflochten. Für einen Erwachsenen war dieser dunkel, mit einem Kreuz in der Mitte, für Kinder war er weiss, mit einem Porzellan-Engelchen drin.

Das Rösslein und die vier Sargträger waren von Nachbarn des Verstorbenen gestellt worden. So ging der Trauerzug langsam über den vorderen Kirchweg nach Hitzkirch zum Friedhof, hinter dem Wagen die Verwandten mit den tiefschwarz gekleideten Frauen, die das Trauergewand ein Jahr lang tragen würden.

Besuche im Trauerhaus

Es waren wohl die scheue Neugierde und die Allgegenwart der ausserordentlichen Zeichen und Gespräche, die den Kindern des Dorfes eingaben, gleich den Grossen die Toten im Trauerhaus zu besuchen. Jedenfalls prägten sich die ungewohnte Stille in den Zimmern mit den verhängten Fenstern, dem Geruch von Buchs, von Sefi und Blumen, und der Anblick des feierlichen wirkenden Verstorbenen tief ein.

Eines Nachmittags gingen wir zum Fässler Toneli. Er war in den Bach gefallen, ertrunken und lag nun im einsamen obersten Haus aufgebahrt. Wir standen in der dunklen Stube vor dem kleinen Sarg, darin das Kind wie schlafend lag.

Eines Tages war einer unserer Nachbarn gestorben. Herr Vonarburg, der Bauer, hatte uns lebhafte Kinder oft in die Schranken gewiesen, jetzt lag er da mit seinem grossen Schnauz in den schönsten Sonntagskleidern, friedlich auf dem hohen, schneeweiss überzogenen Bett im Schlafzimmer neben der fein aufgeräumten Stube, einen schwarzen Rosenkranz um die gefalteten grossen Hände.

Wir besuchten den Sattler Nyffeler, den Hafner Gretler im Haus bei uns nebenan, den Vater Josef Lüpold, der lang gelitten hatte, und die Grosstante Barbara. Sie war ledig geblieben, half überall im Dorf aus und belieferte des Pfarrers Seppeli mit Eiern. Mir hatte ihre besondere zärtliche Liebe gegolten, jetzt lag sie in einem weissen Hemd arm und klein in ihrem Bett, die Hände und der kleine runde Kopf gezeichnet von den Runzeln eines entbehrungsreichen, würdigen Lebens.

Herrn Rütters Unfall

Einen unerhörten Eindruck machte auf uns das Ereignis mit dem armen Herrn Rütter. Der Inhaber eines Spirituosengeschäftes in St. Erhard war mit seinem Auto zwischen Mosen und Ermensee gegen einen Baum gefahren und tödlich verunglückt. Wir waren weiss Gott wie schnell an der Unfallstelle; im Gras lag das zertrümmerte Auto und daneben ein toter kleiner Vogel. Der Verunglückte lag schon auf einem Leiterwagen, und wir begleiteten den kleinen rundlichen Toten, der am Gilet seiner schönen Kleidung eine goldene Uhrenkette hatte, ins Dorf hinauf zum Spritzenhaus. Es war um 1930 herum gewesen.

Unvergessen blieb uns Schulkindern der Tod des Gespänleins Nina Elmiger, Gigers Nineli. Es war ein stilles, sonniges Kind gewesen, schmal, mit weizenblondem Lockenhaar. Eines Tages war es im Kantonsspital Luzern an Blinddarmentzündung gestorben. Der Fuhrhalter Müller, der diesen letzten Liebesdienst meistens besorgte, holte die kleine Tote in der Stadt ab und brachte sie unter dem Läuten der beiden Kapellenglocken heim ins Dorf. In der Schule übten wir uns bei Lehrer Egli auf die Beerdigung ein, und mit Blumen und Liedern wurde das Nineli an einem sonnigen Morgen zu Grabe geleitet.

Im Kindbett gestorben

Das tiefste Erlebnis in unseren kindlichen Todesbegegnungen, das ich bis heute sorgsam hüte, war der Besuch bei der Mutter Lehni. Wir waren wie jeden Abend auch in diesem frühen Frühling auf dem Weg zur Sennhütte und hatten hinter irgendeiner Scheiterbeige kindliche Geheimnisse ausgetauscht und uns gesagt, dass wir einander mögen, wie Kinder es eben tun. Und dann gingen wir in das kleine würfelförmige Haus unterhalb der Post. Ein enger Vorraum, geradeaus links die dunkle Küche, rechts die Stube. Und dort war ein Bildnis wunderbar entrückter Art. Wie immer diagonal aus der Ecke stand am Boden der schwarze Sarg, daneben auf einem Taburett das Weihwasserbecken mit dem Buchszweig. Im Schein von zwei Kerzen sah man in dem schmalen Gehäuse eine junge Frau liegen, wächsern und gelöst in Weiss. Neben sich hielt sie im Arm ein winziges Kindlein mit dunkelrotem kleinem Mund. Dieses tote Kindlein bei der toten Mutter, im schmalen Totenbett, ich weiss nicht, warum es uns, die wir in kindlicher Lebensfreude davor standen, so heftig anrührte. Neben dem Sarg stand schmal, hager und still der Vater Lehni. Er hatte verweinte und gerötete Augenränder, und neben ihm stand ein magerer kleiner Bub, der noch nicht zur Schule ging. Frau Lehni war im Kindbett gestorben und hatte ihr Neugeborenes in das letzte kleine Haus mitgenommen. Wir holten in der Sennhütte die Milch und gingen unter dem funkelnden Sternenhimmel heim.

So wurde gestorben im Dorf, immer wieder. Man war vertraut damit wie mit dem Sterben der Tiere und dem Vergehen der Blüten am Lindenbaum. Und man wusste, dass der Dachdecker Weibel oder der Vetter Banz gerade jetzt gestorben waren, wenn sie sich an der Falle der Haustür oder mit dem Herunterfallen eines Bildes angekündigt hatten.

*Anton E. Müller (1922–2001) wuchs in Ermensee auf. Nach der Matura studierte er Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte und wurde 1948 Konservator des Kunstmuseums Luzern. Vier Jahre später stieg er in den Journalismus ein. Stationen waren das «Nidwaldner Volksblatt», die Agentur Kipa und ab 1963 das «Vaterland», das ihm zur beruflichen Heimat wurde. Nach der Pensionierung 1987 zogen Anton und Bruni Müller aus der Stadt Luzern nach Beromünster. Anton Müller zeichnete und schrieb auch dort noch und gab unter anderem ein Buch mit Sagen aus dem Seetal heraus.

Facebook
WhatsApp
Email