Der Beitrag von Rita von Wartburg-Angehrn in der Brattig 2005. | @ 2005 Seetaler Brattig

*Rita von Wartburg-Angehrn, Hochdorf

Letzten Frühling fiel mir beim Entrümpeln eine eigenartige Schachtel in die Hände. Voller Staub lag sie zwischen alten Büchern und einer Kiste mit Stoffresten. Vorsichtig entfernte ich die alte Schnur und den verstaubten Deckel und staunte: Mein altes Herbarium – fein säuberlich aufgeschichtet lag es vor mir, genau bezeichnet mit der Schrift der 16-Jährigen. Familie: Ranunculaceae, Gattung: Anemone nemorosa, Buschwindröschen, Fundort: Hämikon LU… Zwischen all den Blättern lagen die Pflanzen, alt, grau, teilweise nur noch Staub und zerbröselt. Meine Gedanken wanderten weit zurück und wie ein Film liefen verschiedene Episoden und Ereignisse aus der Seminarzeit vor mir ab…

Erwartungsfroh, mit klopfendem Herzen stehe ich zusammen mit 22 anderen 15- und 16- jährigen Mädchen im Schulzimmer des gelben Hauses in Baldegg. Neugierig beschnuppern wir uns, tauschen erste Erfahrungen aus und gruppieren uns, alle in neuen blauen Ärmelschürzen mit weissem Krägli. Endlich kommt die Schwester Lehrerin und die Schule beginnt. Ich sitze neben Trudi, einem fröhlichen, kontaktfreudigen Mädchen. Ich ahne damals noch nicht, dass sie während der ganzen Seminarzeit meine beste Freundin bleiben wird und auch heute – 45 Jahre später – immer noch mit mir in freundschaftlichem Kontakt steht.

Während fünf Jahren lernen wir, werden geprüft, leiden und freuen uns. Es ist eine strenge Schule, die Unterrichts- und Studienzeiten sind genau geregelt. Es gibt keinen freien Mittwoch, erst am Samstagmittag beginnt das Wochenende. Die Trimester sind lang und für die Internen gibt es höchst selten ein freies Wochenende, an dem sie nach Hause fahren dürfen.

Seminaristische Ausbildung

Einen wichtigen Platz nimmt die Mathematik ein. Sr. Augustine kann es manchmal gar nicht begreifen, dass sich einige meiner Kolleginnen lieber in die Klavierübungszimmer verziehen, statt algebraische Gleichungen zu lösen. Die Musik hat einen hohen Stellenwert im Seminar, gesungen wird zu allen Gelegenheiten, mehrstimmig, mit hellen Sopran- und tiefen Altstimmen. Viele der wunderschönen Lieder summe ich noch heute mit, wenn sie am Radio ausgestrahlt werden. Der gregorianische Choral ist für uns 15-Jährige schon ein wenig gewöhnungsbedürftig, besonders, wenn die Probe auch am freien Samstagnachmittag angesetzt ist. Beim Instrumentalunterricht zeigen sich die verschieden grossen Talente in unserer Klasse. Während die einen schon im 2. Seminar Beethovens Mondscheinsonate perfekt darbieten, bringen andere mit den Bach-Inventionen Sr. Veritas auch nach fünf Jahren Unterricht noch fast zur Verzweiflung.

Gerne erinnere ich mich an die Biologie- und Geografie-Stunden, in denen uns Sr. Antoinette Flora und Länder mit viel Liebe erklärt und beschreibt, vom Karstphänomen schwärmt und den «Bögli» zur Bibel erklärt. Und eben das Herbarium. 100 Pflanzen müssen es sein, fein säuberlich gepresst und mit dem «Binz» werden die Namen, lateinisch und deutsch, bestimmt.

In der Literatur und später in der Psychologie bei Erziehungsrätin Frau Dr. Margrit Erni tun sich uns jungen Frauen neue Welten auf. Das Turnen ist nicht mein Lieblingsfach, immer wieder die gleichen Übungen im blauen selbst geschneiderten Jupe, später im schwarzen Einheitstrainer.

Abstecher aufs Eisfeld im Klostergarten oder im Sommer in die Badi gefallen mir besser. Frau Gautschi, die Badmeisterin, gerät allerdings etwas in Bedrängnis, wenn plötzlich die braven Töchter anmarschieren. «Geht auf die andere Seite, das Kloster kommt», befiehlt sie jeweils den jungen Burschen, die sich in der damals für Frauen und Männer getrennten Badeanstalt auf die falsche Seite verirrt haben.

Zur Legende wird auch die Geschichtsschwester, Sr. Thoma. Von ihrem grossen Wissen versucht sie uns einen Teil zu übermitteln. Genau ist sie, immer drei Seiten müssen im Geschichtsbuch auswendig gelernt werden und nicht etwa nur so grob, nein, wörtlich hätte sies gerne.

Fast alle unsere Lehrerinnen sind Klosterfrauen, je nach Unterrichtsfach und eigener Begabung, schätzt man die eine oder andere mehr. Komischerweise kommen sie mir alle sehr alt vor, vor allem wegen ihren geschlossenen eckigen Hauben. Erst viel später habe ich realisiert, dass einige unter ihnen kaum zehn Jahre älter waren als wir Schülerinnen. Auch erst viel später habe ich mich dankbar an sie erinnert und sie als interessante, intelligente Frauen wahrgenommen.

Freuden und Leiden im Internat

Während die meisten meiner Kameradinnen fünf Jahre intern im Seminar sind, geniesse ich das erste und die beiden letzten Jahre als Externe. Damit verbunden ist eine Art Botendienst. Briefe auf die Post mitnehmen ist für mich eine Ehrensache, denn die Schülerinnen müssen die Briefe offen abgeben und diese können von der Seminarleitung zensuriert werden. Auch Schoggi posten und für meine Freundin einen Klöpfer zum Zobig bringen sind so kleine Liebesdienste, die ich gerne erfülle. Dies zeigt auch, wie beschränkt die Ausgangsmöglichkeiten der Internen sind. Die Sonntagsspaziergänge werden zusammen mit einer Schwester unternommen.

In der 2. und 3. Klasse des Seminars aber gibt es auch für mich Hochdorferin kein Entrinnen mehr. Vielleicht erhofft sich Sr. Consummata etwas vermehrten Einfluss auf die Pubertierende. Im grossen Schlafsaal des gelben Hauses, wo 16 Töchter ihre Schlafkoje haben, versuche ich mich an die neue Ordnung zu gewöhnen. Spartanische Einrichtung, ein Bett, ein Nachttisch und ringsum ein Vorhang, daneben ein Schrankteil, wo es gilt, fein säuberlich Ordnung zu halten. Immerhin wird jede Woche kontrolliert, ob die Taschentücher- und die Hemdenbeigen schön gerade im Schrank stehen. Damit die Töchter nicht übermütig werden, ist im Schlafsaal auch eine Schwesternzelle integriert. So werden nächtliche Feste und Gespräche nach dem Lichterlöschen um halb zehn Uhr im Keim erstickt. Oft lernen pflichtbewusste Schülerinnen mit Taschenlampe unter der Decke oder auf der Toilette. Meine Freundin und ich bevorzugen die Romanlektüre unter der Bettdecke. Vom Schlafsaalfenster aus sehe ich direkt nach Hause.

Am schlimmsten ist für mich die strenge Zeitordnung, vor allem das Aufstehen am Morgen. Um sechs Uhr ertönt der Gong. Aufstehen, waschen im grossen Waschsaal, anziehen, Bett auslüften und dann – das Béret nicht vergessen – in die Kirche. Zweimal dürfen wir «ausschlafen» bis sieben Uhr. Nach der Kirche Frühturnen im Park vor dem gelben Haus. Ziemlich lustlos machen wir die vorgeschriebenen Übungen und hoffen, dass niemand aus dem vorbeifahrenden Zug uns kennt. Nach dem Morgenessen müssen noch die Betten gemacht werden, bevor um acht Uhr die Schule beginnt.

Das Essen und die Ordnung am Tisch sind im Internat wichtige Themen. Auf der Stirnseite des Tischs sitzt eine Schwester. Sie kontrolliert die Tischsitten und gibt Anweisungen fürs Leben. Immerhin weiss ich noch heute, wie man Blutwürste richtig aufschneidet, dass es nicht spritzt, und Konfibrot anständig isst. Begehrte Menüs sind: Vogelheu, Birchermüesli und Rösti.

Sehnsüchte

Das Internatsleben lässt manche Freundschaft entstehen. Aber es gibt auch viele ungestillte Sehnsüchte. Keine Tanzanlässe, keine Feste, kein Diskutieren mit Studenten in unserem Alter. Es bleibt nur die alljährliche Studentenkilbi in Hitzkirch. Es bleiben Zenitfotos von dort, um nachher vom schönen Walti, der so gut Trompete spielt, oder vom Lord, der so fantastisch rezitiert, zu schwärmen. Gottlob kann ich an den meisten Wochenenden nach Hause! Und so schlimm erwischts mich nicht wie eine meiner Kolleginnen, die ins Studiumzimmer gestürmt kommt und ruft: «Kommt hinaus in den Gang, es riecht nach Mann!» Eine Männergruppe hat das Seminar besichtigt.

Aber es gibt auch Abwechslungen im harten Studienjahr. Das Theaterspielen hat eine lange Tradition. Leider werden meine schauspielerischen Fähigkeiten nicht entdeckt. Beim obligatorischen Missionstheater spielen Maria und ich einen Kapuziner und einen Kommunisten so eindrucksvoll, dass die Schwestern in der vordersten Reihe das Taschentuch hervornehmen, um das aufkeimende Lachen zu ersticken. Der Besuch im Stadttheater Luzern, wo «Andorra» und «Der gute Mensch von Sezuan» aufgeführt werden, der Opernbesuch in Zürich und das «Welttheater» in Einsiedeln sind bleibende Erinnerungen. Auch die Filme, die Sr. Augustine uns zeigt, sind eine willkommene Abwechslung.

Und heute?

Heute bin ich dankbar, dass ich das Seminar in Baldegg besuchen durfte. Vieles wurde in diesen Jahren geweckt, die Freude an Sprache und Literatur, an Musik und Kunst und an der Natur. Im geschützten Rahmen einer Mädchenklasse war vieles möglich, konnte ausprobiert werden und hinterliess Spuren fürs Leben.

Vierzig Jahre sind vergangen, seitdem meine Kolleginnen und ich das Lehrpatent erhalten haben. Vieles hat sich an der Schule verändert, vieles wurde reformiert oder abgeschafft. Neue Lehrmittel, neue Lehrmethoden haben Einzug gehalten. Lehrermangel wechselte mit Lehrerüberfluss. Alle diese Entwicklungen haben auch die Schule Baldegg geprägt. Sie hat sich dank dem grossen Fachwissen der Schwestern, dank deren innovativem Denken und Handeln in all den Jahren zu einer der fortschrittlichsten Schulen entwickelt, bis das Aus für die seminaristische Ausbildung kam.

Wenn sich im Sommer 2005 die Türen hinter dem letzten Jahrgang von Seminaristinnen schliessen, bricht eine lange Tradition ab — ein wichtiges Kapitel Frauengeschichte ist zu Ende! Ich freue mich, dass mit dem Gymnasium Seetal in Baldegg eine zukunftsgerichtete Lösung gefunden werden konnte und doch sage ich mit leiser Wehmut: «Adieu Seminar – adieu Töchterinstitut Baldegg !»

Rita von Wartburg-Angehrn (geboren 1943), wuchs in Hochdorf auf, wo sie bis heute lebt. Sie besuchte das Lehrerinnen-Seminar Baldegg von 1959 bis 1964. Als Gemeinderätin von Hochdorf, die sie von 1987 bis 2002 war, bereitete Rita von Wartburg den Zusammenschluss der Kantonsschule Hochdorf und des Kurzzeitgymnasiums Hitzkirch zur neuen Kantonsschule Seetal in Baldegg mit vor.

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